»Wann und wo?«
»Komm morgen in mein Büro. Wir fahren dann gemeinsam rüber.«
»Ich möchte nicht in die Kanzlei, Josh. Das sind lauter unangenehme Erinnerungen. Können wir uns nicht im Gericht treffen?«
»Von mir aus. Sei um zwölf Uhr im Zimmer von Richter Wycliff.«
Nate legte ein weiteres Scheit in den Kamin und sah dem Schneetreiben vor der Veranda zu. Er wusste, wie man in Anzug und Krawatte mit einem Aktenkoffer auftritt, konnte sich verhalten und reden wie ein Anwalt, sagen, »Euer Ehren« und »Ich bitte das Gericht, zu berücksichtigen«, und er konnte Einsprüche in den Saal rufen und Zeugen in die Mangel nehmen. Er war zu allem imstande, was eine Million anderer taten, aber als Anwalt betrachtete er sich nicht mehr. Diese Zeiten waren Gott sei Dank vorbei.
Ein weiteres Mal würde er es tun, aber nur dies eine Mal. Er versuchte sich einzureden, dass er es für seine Mandantin Rachel tue, wusste aber, dass ihr das völlig gleichgültig war.
Er hatte ihr immer noch nicht geschrieben, obwohl er es sich oft vorgenommen hatte. Schon der Brief an Jevy hatte ihn zwei Stunden harte Arbeit gekostet, bei der nur anderthalb Seiten herausgekommen waren.
Nach drei Schneetagen fehlten ihm die feuchtheißen Straßen von Corumba mit dem gemächlichen Fußgängerverkehr, den Straßencafes und dem Lebensrhythmus, dessen unüber-hörbare Botschaft war: Es gibt nichts, das nicht bis morgen warten kann. Es schneite von Minute zu Minute heftiger. Vielleicht gibt es wieder einen Schneesturm, dachte er, dann werden die Straßen gesperrt, und ich brauche doch nicht hinzufahren.
Wieder einmal Sandwiches aus der griechischen Imbissstube, wieder Gewürzgürkchen und Tee. Josh richtete den Tisch her, während er und Nate auf Richter Wycliff warteten. »Hier ist die Gerichtsakte«, sagte er und gab Nate einen umfangreichen roten Ordner. »Und hier ist deine Antwort«, sagte er und gab ihm einen braunen Aktendeckel. »Du musst das so schnell wie möglich durchlesen und unterzeichnen.«
»Hat die Nachlass Verwaltung bereits darauf reagiert?« fragte Nate.
»Unsere Stellungnahme kommt morgen. Da drin liegt die von Rachel Lane, fix und fertig. Du musst sie nur noch unterschreiben.«
»Hier stimmt was nicht, Josh. Ich reiche eine Stellungnahme zu einer Testamentsanfechtung im Namen einer Mandantin ein, die nichts davon weiß.«
»Dann schick ihr eine Kopie.«
»Und wohin?«
»An ihre einzige bekannte Anschrift, die von World Tribes Missions in Houston, Texas. Steht alles in der Akte.« Kopfschüttelnd nahm Nate zur Kenntnis, dass Josh bereits alles Erforderliche vorbereitet hatte. Er kam sich vor wie ein Bauer auf einem Schachbrett. In ihrer vierseitigen Stellungnahme bestritt die Erbin Rachel Lane alle von den sechs Antragstellern, die das Testament anfochten, gemachten Behauptungen im allgemeinen und im besonderen, Stück für Stück. Nate las die sechs Anfechtungsanträge, während sich Josh mit seinem Mobiltelefon beschäftigte.
Letztlich liefen alle Anwürfe und juristisch verklausulierten Formulierungen auf die eine Frage hinaus: Hatte Troy Phelan gewusst, was er tat, als er sein letztes Testament verfaßte ? Das Verfahren würde der reinste Zirkus werden, denn bestimmt würden die Anwälte Psychiater aller Schulen und Schattierungen aufbieten, aber auch Angestellte vor Gericht auftreten lassen, frühere Mitarbeiter, einstige Freundinnen, Hausmeister, Zimmermädchen, Chauffeure, Piloten, Leibwächter, Ärzte und Prostituierte - kurz, jeden, der irgendwann einmal fünf Minuten mit dem Alten zugebracht hatte.
Nate war das alles zuviel. Die Akte belastete ihn immer mehr, je weiter er las. Am Ende der Auseinandersetzung würde der Aktenberg bestimmt ein ganzes Zimmer anfüllen.
Richter Wycliff kam um eins, wie immer in großer Eile. Während er sich die Robe herunterzerrte, entschuldigte er sich für die Verspätung. »Sie sind Nate O'Riley«, sagte er und hielt ihm die Hand hin.
»Ja, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Josh löste sich endlich von seinem Mobiltelefon. Sie drängten sich um den kleinen Tisch und begannen zu essen. »Josh hat mir gesagt, dass Sie die reichste Frau der Welt aufgestöbert haben«, sagte Wycliff mit vollem Mund. »Stimmt. Vor etwa zwei Wochen.«
»Und Sie können mir nicht sagen, wo sie sich aufhält?«
»Sie hat mich gebeten, das nicht zu tun. Ich hab's ihr versprochen.«
»Wird sie zum gegebenen Zeitpunkt hier auftreten und Aussagen?«
»Das wird nicht nötig sein«, erklärte Josh. Natürlich befand sich in seiner Handakte eine von der Kanzlei Stafford vorbereitete Aktennotiz über die Notwendigkeit ihres Erscheinens im Laufe des Verfahrens. »Wenn sie nichts über Mr. Phelans Geisteszustand weiß, kann sie als Zeugin nichts zur Klärung der Sachlage beitragen.« »Aber sie ist eine der Parteien«, sagte Wycliff.
»Das ist richtig. Aber man kann sie von der Anwesenheitspflicht entbinden. Wir können die Auseinandersetzung auch ohne sie führen.«
»Und wer soll sie von der Anwesenheitspflicht entbinden?«
»Sie, Euer Ehren.«
»Ich beabsichtige, zum gegebenen Zeitpunkt einen Antrag zu stellen«, sagte Nate, »mit dem ich das Gericht bitte zu gestatten, dass das Verfahren in ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann.« Josh lächelte über den Tisch. Gut gemacht, Nate.
»Ich denke, darüber werden wir uns später den Kopf zerbrechen«, sagte Wycliff. »Im Augenblick geht es mir mehr um die Zeugenaussagen. Ich muss nicht betonen, wie sehr die Phelan-Nachkommen darauf drängen, dass die Sache vorangeht. «
»Die Nachlassverwaltung wird morgen ihre Stellungnahme vorlegen«, sagte Josh. »Wir sind für die Auseinandersetzung bereit.«
»Und was ist mit der Erbin?«
»Ich arbeite noch an ihrer Stellungnahme«, sagte Nate düster, als sitze er seit Tagen daran. »Aber bis morgen habe ich sie fertig.«
»Sind Sie für die Zeugenvernehmung bereit?«
»Ja, Sir.«
»Wann dürfen wir damit rechnen, dass Sie die von Ihrer Mandantin unterzeichnete Annahmeerklärung und Gerichtsstandvereinbarung vorlegen können?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Genaugenommen bin ich erst für Ihre Mandantin zuständig, wenn ich diese Dokumente in Händen habe.«
»Ja, ich verstehe. Bestimmt werden sie bald vorliegen. Die Post arbeitet da unten sehr langsam.«
Josh lächelte seinem Schützling zu.
»Sie haben sie also tatsächlich gefunden, ihr ein Exemplar des Testaments vorgelegt, ihr erläutert, was es mit der Gerichtsstandvereinbarung und der Annahmeerklärung auf sich hat, und sich bereit erklärt, sie zu vertreten?«
»Ja, Sir«, sagte Nate, aber nur, weil er musste.
»Sind Sie bereit, diesen Tatbestand in Form einer eidesstattlichen Erklärung in der Akte zu vermerken?«
»Ist das nicht ein bißchen ungewöhnlich?« fragte Josh.
»Möglich, aber wenn wir ohne ihre Vollmacht und Annahmeerklärung das Vorverfahren eröffnen, möchte ich irgendwas Schriftliches in der Akte haben, woraus hervorgeht, dass die Nachlassverwaltung Kontakt mit ihr aufgenommen hat und ihr bekannt ist, was wir hier tun.«
»Guter Gedanke«, sagte Josh, als stamme der Einfall von ihm selbst. »Nate unterschreibt das.«
Nate nickte und biss ein großes Stück von seinem Brot ab, wobei er hoffte, man werde ihn in Frieden essen lassen, ohne ihn zu weiteren Lügen zu zwingen.
»Hat sie Troy nahegestanden?« fragte Wycliff.
Nate kaute, solange er konnte, bevor er antwortete. »Das bleibt aber unter uns, nicht wahr?«
»Natürlich. Reines Geplauder.«
Ja, und solches Geplauder kann dazu führen, dass Prozesse gewonnen oder verloren werden. »Ich glaube nicht. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen.«
»Wie hat sie reagiert, als sie das Testament gesehen hat?«
Wycliff sagte das tatsächlich im Plauderton, und Nate war klar, dass er alle Einzelheiten wissen wollte. »Sie war überrascht, um es zurückhaltend zu formulieren«, sagte er trocken.
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