Die Schiedsrichterin Stef rollte mit den Augen, als wolle sie sagen: »Das reicht.«
»Warum hast du das Studium geschmissen?« fragte Nate, um die Frage hinter sich zu bringen.
»Aus verschiedenen Gründen. Es wurde langweilig.«
»Er hatte kein Geld mehr«, sagte Stef hilfreich. Sie sah Nate so ausdruckslos an, wie ihr das nur möglich war. »Stimmt das?« fragte Nate.
»Das ist ein Grund.«
Nate spürte den Impuls, das Scheckbuch zu zücken, um dem Jungen aus der Patsche zu helfen. So hatte er es immer gehalten. Elternschaft war für ihn nichts anderes gewesen als eine unaufhörliche Kette von Zahlungen. Wenn du schon nicht selbst da sein kannst, schick wenigstens Geld. Aber inzwischen war Daniel dreiundzwanzig, hatte das College abgeschlossen und zog mit Gestalten wie Fräulein Bulimie herum. Es war höchste Zeit, dass er lernte, auf eigenen Füssen zu stehen, sonst würde er umfallen.
Außerdem war Nates Scheckbuch nicht mehr das, was es einmal war.
»Das ist gar nicht so schlecht«, sagte er daher. »Arbeite eine Weile, dann lernst du vermutlich die Uni schätzen.« Stef widersprach. Sie hatte zwei Freundinnen, die das Studium abgebrochen hatten und damit in ein tiefes Loch gefallen waren. Während sie weiterplapperte, zog sich Daniel in seine Ecke der Nische zurück und leerte seine dritte Flasche Bier. Nate kannte jeden denkbaren Vortrag zum Thema Alkohol, wusste aber auch, wie scheinheilig es klingen würde, wenn ausgerechnet er solche Töne anschlüge.
Nach vier Bier war Stef nicht mehr ansprechbar, und Nate hatte nichts mehr zu sagen. Et kritzelte seine Telefonnummer in St. Michaels auf eine Papierserviette und gab sie Daniel. »Hier bin ich in den nächsten Monaten zu erreichen. Ruf an, wenn du mich brauchst.«
»Bis dann, Pa«, sagte Daniel.
»Gib auf dich acht.«
Nate trat in die kalte Nacht hinaus und ging zum Lake Michigan hinüber.
Zwei Tage später traf er in Pittsburgh ein, doch zur vorgesehenen dritten und letzten Wiederbegegnung kam es nicht. Zweimal hatte er Kaitlin, seine Tochter aus erster Ehe, angerufen, und sie hatten sich auf halb acht zum Abendessen in der Halle seines Hotels in der Stadtmitte verabredet. Ihre Wohnung lag zwanzig Minuten entfernt. Um halb neun rief sie an und teilte ihm mit, sie sei im Krankenhaus bei einer Freundin, die bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung erlitten habe.
Nate schlug vor, am nächsten Tag miteinander zu Mittag zu essen, doch Kaitlin erklärte, das sei nicht möglich, weil die Freundin auf der Intensivstation liege und sie in ihrer Nähe bleiben wolle, bis sich ihr Zustand stabilisiert habe. Als Nate merkte, dass seine Tochter auf Abstand zu ihm ging, erkundigte er sich nach der Adresse des Krankenhauses. Zuerst wusste sie sie nicht, dann war sie nicht recht sicher, bis sie schließlich nach weiterem Nachdenken erklärte, ein Besuch dort sei keine gute Idee, denn sie könne ihre Freundin nicht allein lassen.
Er aß in seinem Zimmer an einem Tischchen neben dem Fenster, von wo sein Blick auf die Straße fiel. Lustlos stocherte er auf dem Teller herum und überlegte, warum seine Tochter ihn nicht sehen wollte. Trug sie einen Ring durch die Nase? Eine Tätowierung auf der Stirn? War sie einer obskuren Religion beigetreten und hatte sich den Schädel kahl rasieren lassen? Hatte sie fünfzig Kilo zu- oder fünfundzwanzig abgenommen? War sie schwanger?
Er versuchte, ihr die Schuld zuzuschieben, damit er sich nicht dem stellen musste, was auf der Hand lag. War es möglich, dass sie ihn so sehr hasste?
In der Einsamkeit seines Hotelzimmers in einer Stadt, in der er niemanden kannte, war es leicht, sich selbst zu bemitleiden und sich erneut durch die Fehler der Vergangenheit runterziehen zu lassen.
Er griff zum Telefon und rief Phil an, um sich zu erkundigen, wie es in St. Michaels stehe. Phil hatte die Grippe, und da es im Keller der Kirche kühl war, ließ ihn seine Frau nicht dort arbeiten. Wunderbar, dachte Nate. Wie viele Ungewissheiten auch auf seinem Weg liegen mochten, die eine Konstante zumindest in der näheren Zukunft war die Aussicht darauf, dass ihm die Arbeit im Keller der Dreifaltigkeitskirche nicht ausgehen würde.
Dann erledigte er seinen allwöchentlichen Anruf bei Sergio und berichtete ihm, dass er die Dämonen unter Kontrolle habe und sich überraschend wohl fühle. Er habe nicht einmal einen Blick in die Minibar in seinem Hotelzimmer geworfen.
Er rief in Salem an und führte ein angenehmes Gespräch mit Angela und Austin. Wie sonderbar, dass die jüngeren Kinder bereit waren, mit ihm zu reden, die älteren aber nicht.
Schließlich rief er Josh an, der sich im Arbeitszimmer im Keller seines Hauses aufhielt und über das Chaos des
Phelan-Falls nachdachte. »Du musst zurückkommen, Nate«, sagte er. »Ich habe einen Plan.«
Zur ersten Runde der Friedensgespräche wurde Nate nicht eingeladen. Ein Grund dafür war, dass diese Gipfelkonferenz in Joshs Räumen stattfinden musste, da er sie anberaumt hatte, und Nate, der es bisher vermieden hatte, die Kanzlei aufzusuchen, wollte das auch weiterhin so halten. Der andere Grund war der, dass die Phelan-Anwälte Josh und Nate als Verbündete ansahen, wozu sie auch alle Ursache hatten. Wenn aber Josh in der Rolle des Vermittlers und Friedensstifters auftreten wollte, musste er, um das Vertrauen der einen Seite zu erwerben, die andere vernachlässigen, und sei es nur für eine Weile. Also sah sein Plan vor, dass er zuerst mit Hark und den anderen zusammentraf, sich anschließend mit Nate besprach und dann, sofern sich das als nötig erwies, einige Tage zwischen den beiden Seiten hin und her pendelte, bis Einigkeit erzielt war.
Nachdem man eine Weile miteinander geplaudert hatte, bat Josh um Aufmerksamkeit. Es gab vieles zu besprachen. Die Anwälte der Phelans brannten darauf, die Sache in Angriff zu nehmen.
Eine einvernehmliche Lösung lässt sich binnen Sekunden finden, beispielsweise in einer Sitzungspause bei einem mit harten Bandagen geführten Prozess, wenn ein Zeuge ins Stolpern gerät oder ein neuer Firmenchef einen Neuanfang machen und belastende Auseinandersetzungen aus dem Weg räumen will. Bis es zu einer solchen Einigung kommt, kann es aber auch Monate dauern, während sich das Verfahren dem Termin der Hauptverhandlung entgegenschleppt. Die Phelan-Anwälte träumten von einer raschen Lösung, und die Zusammenkunft in Joshs Räumen sollte der erste Schritt auf dem Wege dahin sein. Sie waren fest überzeugt, dass ihnen schon bald Millionen in den Schoß fallen würden.
Josh eröffnete die Gespräche mit dem diplomatischen Hinweis darauf, dass die Erfolgsaussichten der Testamentsanfechtung recht dürftig seien. Zwar sei ihm nichts von der Absicht seines Mandanten bekannt gewesen, ein eigenhändiges Testament hervorzuzaubern und damit ein Chaos anzurichten, dennoch müsse man sich darüber klar sein, dass es sich um ein gültiges Testament handele. Erst einen Tag davor habe er zwei volle Stunden mit Troy Phelan über dem anderen neuen Testament zugebracht und sei bereit zu bezeugen, dass dieser genau gewusst habe, was er tat. Überdies werde er, sofern sich das als nötig erweise, bezeugen, dass sich Snead bei ihrem Gespräch zu keinem Zeitpunkt auch nur in der Nähe befunden hatte.
Die drei Psychiater, die Mr. Phelan begutachtet hatten, seien sorgfältig von dessen Kindern und früheren Gattinnen sowie von deren jeweiligen Anwälten ausgewählt worden und verfügten über einwandfreie Zeugnisse und Referenzen, während die vier zur Zeit von der Gegenseite aufgebotenen Psychiater nicht wüssten, wovon sie sprachen; ihre Gutachten seien fragwürdig. Sollte es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Gutachtern kommen, würden sich seiner festen Überzeugung nach die drei ursprünglichen mit ihrem Votum durchsetzen. Wally Bright trug seinen besten Anzug, was allerdings nicht viel hieß. Er nahm die kritischen Äußerungen mit zusammengebissenen Kinnbacken auf und hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, damit ihm nichts Dummes entfuhr. Er machte sich überflüssige Notizen, weil auch alle anderen das taten. Es entsprach nicht seinem Wesen, ruhig dazusitzen und sich solch herabsetzende Äußerungen anzuhören, nicht einmal, wenn ein so bekannter Anwalt wie Josh Stafford sie von sich gab. Aber für den Geldbetrag, um den es ging, würde er alles tun. Letzten Monat, also im Februar, hatte seine kleine Kanzlei zweitausendsechshundert Dollar an Honorar eingenommen und die üblichen viertausend an laufenden Kosten verursacht, so dass für ihn nichts übriggeblieben war. Natürlich hatte er den größten Teil seiner Zeit mit dem Fall Phelan verbracht.
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