Als er in Medford angekommen war, etwa vier Autostunden von ihrem Wohnort entfernt, rief er aus dem Wagen in der Schule an. Er musste fünf Minuten warten - sicher brauchte sie die Zeit, um ihre Tür abzuschließen und sich zu sammeln. »Hallo«, sagte sie schließlich.
»Christi, ich bin's, Nate.« Er kam sich albern vor, dass er einer Frau, mit der er zehn Jahre zusammengelebt hatte, am Telefon sagte, wer er war.
»Wo bist du?« fragte sie, als stehe ein Angriff bevor.
»In der Nähe von Medford.«
»In Oregon?«
»Ja. Ich möchte gern die Kinder besuchen.«
»Wann?«
»Heute abend oder morgen. Ich hab's nicht eilig. Ich bin seit ein paar Tagen ohne festen Reiseplan unterwegs und sehe mir die Gegend an.«
»Bestimmt können wir was arrangieren, Nate. Aber die Kinder haben reichlich zu tun, du weißt schon, Schule, Ballett, Fußball.«
»Wie geht es ihnen?«
»Sehr gut. Schön, dass du fragst.«
»Und dir?«
»Gut. Uns gefällt es in Oregon.«
»Mir geht es auch gut. Schön, dass du fragst. Ich bin clean und nüchtern, Christi, wirklich. Ich habe den Alkohol und die Drogen für immer zum Teufel gejagt. Vermutlich höre ich als Anwalt auf, aber es geht mir wirklich gut.«
Das hatte sie schon früher gehört. »Das ist schön, Nate.« Es klang zurückhaltend. Offenbar überlegte sie immer zwei Sätze im voraus, was sie sagen würde.
Sie verabredeten sich für den folgenden Abend zum Essen. Das gab ihr genug Zeit, die Kinder vorzubereiten, im Haus aufzuräumen, und auch Theo konnte sich überlegen, wie er sich zu der Sache stellen wollte. Es war genug Zeit, sich Ausflüchte zu überlegen und Ausreden einzustudieren.
»Ich will euch nicht zur Last fallen«, versprach Nate und legte auf.
Theo beschloss, bis zum späten Abend zu arbeiten und sich das Zusammentreffen zu ersparen. Nate drückte Angela kräftig an sich. Austin schüttelte ihm einfach die Hand. Nate hatte sich vorgenommen, auf keinen Fall sein Erstaunen darüber zu äußern, wie sehr die Kinder gewachsen waren. Christi trödelte eine geschlagene Stunde in ihrem Zimmer herum, während Nate seine Bekanntschaft mit den Kindern erneuerte.
Er war entschlossen, sie nicht mit Entschuldigungen für Dinge zu überhäufen, an denen er nichts mehr ändern konnte. Sie saßen im Wohnzimmer auf dem Fußboden und unterhielten sich über Schule, Ballett und Fußball. Salem war ein hübsches Städtchen, viel kleiner als Washington, die Kinder hatten sich gut ein- "| gelebt, hatten viele Freunde, eine gute Schule und angenehme Lehrer.
Zum Abendessen, das eine volle Stunde dauerte, gab es Spaghetti und Salat. Nate berichtete, was er im brasilianischen Urwald auf der Suche nach seiner Mandantin erlebt hatte. Offensichtlich hatte Christi nicht die richtigen Zeitungen gelesen, denn sie wusste nichts von der Phelan-Sache.
Um Punkt sieben sagte Nate, er müsse gehen. Die Kinder hatten Hausaufgaben zu erledigen und mussten am nächsten Morgen früh zur Schule. »Ich habe morgen ein Fußballspiel, Papa«, sagte Austin. Nate wäre fast das Herz stehen geblieben. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand zuletzt Papa zu ihm gesagt hatte.
»Es ist in der Schule«, sagte Angela. »Könntest du da nicht kommen?«
Einen Augenblick lang sahen alle einander unbehaglich an. Nate wusste nicht, was er sagen sollte.
Christi rettete die Situation, indem sie sagte: »Ich gehe hin. Wir könnten uns dann dort unterhalten.«
»Natürlich komme ich«, sagte Nate. Die Kinder umarmten ihn zum Abschied. Während er fortfuhr, argwöhnte Nate, dass Christi ihn nur deshalb an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sehen wollte, um seine Augen zu studieren. Sie kannte die Anzeichen.
Er blieb drei Tage in Salem. Er sah sich das Fußballspiel an und platzte vor Stolz auf seinen Sohn. Als er wieder zum Abendessen eingeladen wurde, erklärte er, nur kommen zu wollen, wenn auch Theo teilnähme. Zu Mittag aß er mit Angela und ihren Freundinnen in der Schulkantine.
Nach drei Tagen war es Zeit zum Aufbruch. Die Kinder brauchten ihren normalen Tagesablauf, ohne die Komplikationen, die Nates Besuch mit sich brachte. Christi hatte es satt, so tun zu müssen, als wäre nie etwas zwischen ihnen geschehen, und Nate fühlte sich zu sehr zu seinen Kindern hingezogen. Er versprach anzurufen, E-
Mails zu schicken und sie bald wieder zu besuchen.
Er verließ Salem mit gebrochenem Herzen. Wie tief konnte ein Mann sinken, dass er eine so großartige Familie aufgab? Er konnte sich an fast nichts aus Angelas und Austins früher Kindheit erinnern - keine Schultheaterauf-führungen, Halloween-Verkleidungen, Weihnachtsbescherungen, gemeinsame Fahrten zum Einkaufszentrum.
Jetzt waren sie so gut wie erwachsen, und ein anderer Mann zog sie auf.
Er wandte sich ostwärts und ließ sich mit dem Verkehr treiben.
Während Nate ziellos durch Montana fuhr und an Rachel dachte, reichte Hark Gettys einen Antrag auf Abweisung ihrer Stellungnahme zur Testamentsanfechtung ein. Seine Gründe waren klar und unabweisbar, und er untermauerte seinen Antrag mit einem zwanzigseitigen Schriftsatz, an dem er einen ganzen Monat gefeilt hatte. Man schrieb den 7. März. Nahezu drei Monate nach Troy Phelans Tod, nicht ganz zwei Monate, nachdem Nate O'Riley hinzugezogen worden war, fast drei Wochen nach Beginn des Vorverfahrens und vier Monate vor der Verhandlung war das Gericht immer noch nicht für Rachel Lane zuständig. Außer den auf nichts Greifbares gestützten Behauptungen ihres Anwalts gab es kein Eebenszeichen von ihr. Keines der dem Gericht vorliegenden Dokumente trug ihre Unterschrift.
Hark bezeichnete sie in seinem Antrag als »Phantom« und erklärte, er und die Antragsteller kämpften gegen einen Schatten. Die Frau solle schließlich elf Milliarden Dollar erben. Sie könne zumindest die erforderliche Gerichtsstandvereinbarung unterschreiben. Wenn sie sich die Mühe gemacht habe, einen Anwalt zu beauftragen, könne sie sich gewiss auch der Zuständigkeit des Gerichts unterwerfen.
Je mehr Zeit verstrich, desto günstiger schien es um die Sache der Phelan-Kinder zu stehen. Trotzdem fiel es ihnen schwer, Geduld zu bewahren, während sie von ihrem unermesslichen Reichtum träumten. Sie durften jede Woche, die ohne Lebenszeichen von Rachel verging, als weiteren Beweis dafür verbuchen, dass sie kein Interesse an dem Verfahren hatte. Bei ihren Freitagvormittag-Sitzungen gingen die Phelan-Anwälte noch einmal die Zeugenbefragung durch, sprachen über ihre Mandanten und brachten letzte Korrekturen an ihrer Prozessstrategie an. Die meiste Zeit aber spekulierten sie über die Gründe, die Rachel haben mochte, sich dem Gericht gegenüber nicht auszuweisen. Die lachhafte Vorstellung, dass sie das Geld möglicherweise nicht wollte, ließ ihnen keine Ruhe. Der bloße Gedanke war widersinnig, tauchte aber trotzdem jeden Freitagmorgen erneut auf.
Aus den Wochen wurden Monate. Die Lottokönigin erschien nicht, um ihren Gewinn abzuholen.
Es gab einen weiteren wichtigen Grund, Druck auf die Verwalter von Troys Vermögen auszuüben, und der hieß Snead. Hark, Yancy, Bright und Langhorne hatten die Aufzeichnung der Befragung ihres Hauptzeugen so oft angesehen, bis sie sie auswendig konnten. Sie waren unsicher, ob er imstande sein würde, Geschworene auf seine Seite zu ziehen. Nate O'Riley hatte ihn zum Narren gemacht, und dabei hatte es sich lediglich um eine Befragung gehandelt. Man konnte sich vorstellen, welche Waffen er bei einem Prozess aufbieten würde, über dessen Ausgang Geschworene zu entscheiden hatten, vorwiegend Menschen aus der Mittelschicht, denen es schwerfiel, Monat für Monat ihre Rechnungen zu bezahlen. Dass Snead eine halbe Million eingesteckt hatte, um seine Geschichte zu erzählen, würde bei ihnen nicht gut ankommen.
Die Schwierigkeit mit Snead lag auf der Hand. Er log, und Lügen haben vor Gericht meist kurze Beine. Nachdem er bei der Befragung so versagt hatte, waren den Anwälten die größten Bedenken gekommen, ihn vor den Geschworenen auftreten zu lassen. Sofern auch nur eine oder zwei weitere Lügen aufgedeckt wurden, konnten sie alle Hoffnungen begraben.
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