Es dauert eine Ewigkeit, sie loszueisen, aber endlich sehen wir sie auf uns zukommen, ohne Handschellen, mit einem Lächern. Wir begleiten sie rasch zu meinem Wagen. Ich habe Butch und Deck gebeten, uns ein paar Blocks weit zu folgen, nur sicherheitshalber.
Ich informiere Kelly über die Morddrohungen. Wir vermuten, daß es seine Verwandten und Arbeitskollegen sind. Wir reden wenig, während wir schnell die Innenstadt hinter uns lassen und zu dem Frauenhaus fahren. Ich möchte nicht über den gestrigen Abend reden, und auch sie ist noch nicht dazu bereit.
Um fünf Uhr am Dienstag nachmittag meldet Great Benefit beim Bundesgericht in Cleveland Konkurs an. Peter Corsa ruft im Büro an, während ich Kelly verstecke, und Deck nimmt den Anruf entgegen. Als ich ein paar Minuten später eintreffe, ist Deck leichenblaß.
Wir sitzen, mit den Füßen auf dem Schreibtisch, lange Zeit wortlos in meinem Büro. Totale Stille. Keine Stimmen. Kein Telefon. Keine Verkehrsgeräusche von unten. Wir hatten unsere Diskussion darüber, wieviel Deck von dem Honorar bekommen würde, aufgeschoben, er weiß also nicht, wieviel er verloren hat. Aber wir wissen beide, daß wir von Papiermillionären zu nahezu Insolventen geworden sind. Unsere hochfliegenden Träume von gestern kommen uns albern vor.
Es gibt noch einen Funken Hoffnung. Noch in der vorigen Woche sah die Bilanz von Great Benefit solide genug aus, um eine Jury zu überzeugen, daß die Gesellschaft fünfzig Millionen Dollar entbehren könnte. M. Wilfred Keeley schätzte ihr Barvermögen auf hundert Millionen. Sicherlich steckte ein Teil Wahrheit darin. Ich erinnere mich an die Warnungen von Max Leuberg. Verlassen Sie sich nicht auf die Zahlen einer Versicherungsgesellschaft; die machen ihre Buchführungsregeln selbst.
Aber bestimmt muß doch irgendwo noch eine Million für uns drinstecken.
Im Grunde glaube ich es nicht, und Deck glaubt es auch nicht.
Corsa hat seine Privatnummer hinterlassen, und endlich bringe ich die Kraft auf, ihn anzurufen. Er entschuldigt sich für die schlechte Nachricht, sagt, in Juristen- und Finanzkreisen in Cleveland herrsche heller Aufruhr. Es ist noch zu früh, um Genaues zu erfahren, aber es sieht so aus, als hätte PinnConn beim Spekulieren mit ausländischen Währungen schwere Verluste einstecken müssen. Daraufhin hätten sie angefangen, die riesigen Geldreserven der Tochtergesellschaften, darunter auch die von Great Benefit, anzuzapfen. Die Lage verschlechterte sich, und das Geld wurde von PinnConn einfach abgezogen und nach Europa transferiert. Der größte Teil der Aktien von PinnConn gehört einer Gruppe amerikanischer Finanzpiraten, die in Singapur operieren. Es hört sich an, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen.
Die Sache entwickelt sich rasch zu einem gewaltigen Coup, dessen Aufdeckung Monate dauern kann. Der dortige Bundesanwalt war heute nachmittag im Fernsehen und hat Strafverfolgung angekündigt. Das hilft uns auch nicht weiter.
Corsa wird morgen früh wieder anrufen.
Ich informiere Deck über das Gespräch, und wir wissen beide, daß es hoffnungslos ist. Das Geld ist von Gangstern beiseite geschafft worden, die zu gerissen sind, um sich erwischen zu lassen. Tausende von Versicherungsnehmern, die legitime Ansprüche hatten und schon einmal leer ausgegangen sind, sind abermals angeschmiert. Deck und ich sind angeschmiert. Ebenso Dot und Buddy. Donny Ray ist am meisten angeschmiert. Drummond ist angeschmiert, wenn er seine beachtliche Rechnung für juristische Dienste präsentiert. Ich erwähne das Deck gegenüber, aber es fällt uns schwer, zu lachen.
Die Angestellten und Agenten von Great Benefit sind angeschmiert. Leute wie Jackie Lemancyzk müssen es ausbaden.
Unglück liebt Gesellschaft, aber irgendwie ist mir zumute, als hätte ich mehr verloren als all diese anderen Leute. Die Tatsache, daß auch andere leiden werden, ist nur ein sehr geringer Trost.
Ich denke wieder an Donny Ray. Ich sehe ihn unter dem Baum sitzen und tapfer versuchen, Kraft für seine Aussage zu sammeln. Er hat für die Dieberei von Great Benefit den höchsten Preis gezahlt.
Ich habe den größten Teil des letzten halben Jahres mit der Arbeit an diesem Fall verbracht, und nun ist diese Zeit vergeudet. Die Kanzlei hat, seit wir damit anfingen, im Durchschnitt monatlich ungefähr tausend Dollar Gewinn gemacht, aber wir wurden angespornt von der Hoffnung auf das große Geld aus dem Black-Fall. In unseren Akten stecken nicht genügend Honorare, um die nächsten beiden Monate zu überleben, und ich denke nicht daran, mich auf irgendwelche Leute zu stürzen. Deck hat einen guten Verkehrsunfall, der aber erst spruchreif wird, wenn der Mandant aus ärztlicher Behandlung entlassen worden ist, was in ungefähr sechs Monaten der Fall sein wird. Und es ist bestenfalls ein Zwanzigtausend-Dollar-Vergleich.
Das Telefon läutet. Deck nimmt den Hörer ab, hört zu, dann legt er rasch wieder auf.»Irgendein Kerl sagt, er wird Sie umbringen«, sagt er sachlich.
«Das ist nicht der schlimmste Anruf des Tages.«
«Im Augenblick würde es mir nichts ausmachen, erschossen zu werden«, sagt er.
Kellys Anblick hebt meine Stimmung. Wir essen wieder chinesisch in ihrem Zimmer, bei abgeschlossener Tür und mit meiner Waffe unter meinem Mantel auf einem Stuhl.
Es gibt so viele Gefühle, die uns bedrängen und um Beachtung wetteifern, daß die Unterhaltung nicht leicht ist. Ich erzähle ihr von Great Benefit, und sie ist nur traurig, weil ich so mutlos bin. Das Geld bedeutet ihr nichts.
Manchmal lachen wir, manchmal weinen wir beinahe. Sie macht sich Sorgen darüber, was die Polizei tun oder herausfinden könnte. Sie hat fürchterliche Angst vor dem Riker-Clan Diese Leute sind schon als Fünfjährige auf die Jagd gegangen. Waffen gehören für sie zum täglichen Leben. Sie hat Angst davor, wieder ins Gefängnis zurückkehren zu müssen, obwohl ich ihr versichere, daß es dazu nicht kommen wird. Wenn die Polizei und die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage gegen sie erheben sollten, werde ich vortreten und die Wahrheit sagen.
Ich komme auf den gestrigen Abend zu sprechen, und sie erträgt es nicht. Sie beginnt zu weinen, und wir schweigen lange Zeit.
Ich schließe die Tür auf und gehe leise den dunklen Korridor entlang durch das weitläufige Haus, bis ich Betty Norvelle finde, die in ihrem Zimmer allein vor dem Fernseher sitzt. Sie kennt nur Bruchstücke dessen, was gestern abend passiert ist. Ich erkläre, daß Kelly im Moment zu labil ist, um allein gelassen zu werden. Ich muß bei ihr bleiben und bin bereit, notfalls auf dem Fußboden zu schlafen. In diesem Haus ist es streng verboten, daß Männer über Nacht bleiben, aber in diesem Fall macht sie eine Ausnahme.
Wir liegen zusammen auf dem schmalen Bett, auf den Dek-ken, und halten uns eng umschlungen. Ich habe vorige Nacht überhaupt nicht geschlafen und heute nachmittag nur ein kurzes Nickerchen gemacht, und mir ist zumute, als hätte ich in der ganzen vergangenen Woche keine zehn Stunden geschlafen. Ich kann sie nicht an mich drücken, weil ich Angst habe, ihr weh zu tun. Ich drifte davon.
Das Hinscheiden von Great Benefit mag in Cleveland eine Sensation sein, aber in Memphis nimmt man es kaum zur Kenntnis. Es steht kein Wort darüber in der Mittwochszeitung. Sie enthält einen kurzen Bericht über Cliff Riker. Die Autopsie hat ergeben, daß er an mehreren Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf gestorben ist. Seine Witwe ist verhaftet und wieder freigelassen worden. Seine Familie will Gerechtigkeit. Seine Beisetzung findet morgen in dem kleinen Nest statt, aus dem er und Kelly geflüchtet sind.
Während Deck und ich die Zeitung lesen, trifft ein Fax aus Peter Corsas Kanzlei ein. Es ist die Kopie eines langen Artikels auf der Titelseite einer Zeitung in Cleveland mit den neuesten Entwicklungen im PinnConn-Skandal. Mindestens zwei Geschworenengerichte werden sich mit der Sache befassen. Ganze Wagenladungen von Klagen werden eingereicht gegen diese Firma und ihre Tochtergesellschaften, insbesondere Great Beneft, deren Konkursanmeldung einen eigenen Artikel verdient. Überall werden Anwälte aktiv.
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