Ich ignoriere den Kaffee. Mein Kopf dröhnt. Ich lade meine Version dessen ab, was sich ereignet hat, seit wir uns gestern am frühen Nachmittag voneinander trennten. Meine Zunge ist dick und schwerfällig, also lasse ich mir Zeit und versuche, mich auf meinen Bericht zu konzentrieren. Charlene läßt sich auf dem am nächsten stehenden Sessel nieder und hört mit großer Anteilnahme zu.»Es tut mir leid«, flüstere ich in ihre Richtung.
«Das ist schon okay, Rudy. Das ist okay.«
Charlenes Vater ist Geistlicher, irgendwo im ländlichen Tennessee, und sie hat keinerlei Verständnis für Betrunkenheit oder ausfallendes Benehmen. Die paar Drinks, die Booker und ich in der Fakultät zusammen hatten, haben wir heimlich gekippt.
«Du hast zwei Sechserpacks getrunken?«fragt er ungläubig.
Charlene geht ins Hinterzimmer, um nach dem Kind zu sehen, das wieder angefangen hat zu weinen. Ich beende meinen Bericht mit dem Zustellungsbeamten, der Klage, dem Rausschmiß aus meiner Wohnung. Es war einfach ein scheußlicher Tag.
«Ich muß einen Job finden, Booker«, sage ich und trinke einen großen Schluck Kaffee.
«Im Augenblick hast du wesentlich größere Probleme. In drei Monaten ist das Examen, danach müssen wir vor den Prüfungsausschuß. Eine Verhaftung und Verurteilung wegen dieser Sache würden dich ruinieren.«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Jetzt fühlt mein Kopf sich an, als wollte er zerspringen.»Könnte ich vielleicht ein Sandwich haben?«Mir ist schlecht. Zum zweiten Sechserpack habe ich eine Tüte Brezeln gegessen, aber das war alles seit dem Lunch mit Bosco und Miss Birdie.
Charlene hört das in der Küche.»Wie wäre es mit Eiern und Speck?«
«Wunderbar, Charlene. Danke.«
Booker ist tief in Gedanken versunken.»In ein paar Stunden rufe ich Marvin Shankle an. Er kann mit seinem Bruder reden, vielleicht bei der Polizei ein gutes Wort für dich einlegen. Wir müssen verhindern, daß du verhaftet wirst.«
«Hört sich gut an. «Marvin Shankle ist der prominenteste schwarze Anwalt in Memphis, Bookers künftiger Boß.»Wenn du mit ihm sprichst, frage ihn, ob bei ihm eine Stelle frei ist.«
«Okay. Du willst also für eine schwarze Bürgerrechtskanzlei arbeiten.«
«Im Augenblick würde ich sogar einen Job bei einer koreanischen Scheidungskanzlei annehmen. Nimm mir's nicht übel, Booker, aber ich muß unbedingt Arbeit finden. Ich stehe vor der Pleite, Mann. Durchaus möglich, daß da draußen noch weitere Gläubiger unterwegs sind, im Gestrüpp lauern und nur darauf warten, daß sie sich mit noch mehr Papieren auf mich stürzen können. Das halte ich nicht aus. «Ich strecke mich langsam auf dem Sofa aus. Charlene brät Eier und Speck, und der Geruch zieht durch das kleine Wohnzimmer.
«Wo sind die Papiere?«fragt Booker.
«Im Wagen.«
Er verläßt das Zimmer und ist eine Minute später wieder da. Er setzt sich auf einen nahe stehenden Stuhl und studiert die Texaco-Klage und den Räumungsbefehl. Charlene hantiert in der Küche, bringt mir mehr Kafee und Aspirin. Es ist halb vier Uhr morgens. Die Kinder sind endlich ruhig. Ich fühle mich warm und sicher, sogar geliebt.
In meinem Kopf dreht es sich langsam, als ich die Augen schließe und davondrifte.
Wie eine Schlange, die sich durchs Unterholz windet, schleiche ich lange nach Mittag und Stunden nach dem Ende meiner beiden heutigen Vorlesungen in die Fakultät. Sportrecht und ausgewählte Texte aus dem Code Napoleon, was für ein Witz. Ich verstecke mich in meinem kleinen Nest im Kellergeschoß der Bibliothek.
Booker hat mich auf dem Sofa mit der erfreulichen Nachricht geweckt, daß er mit Marvin Shankle gesprochen hat und die Räder in der Innenstadt angefangen haben, sich zu drehen. Ein gewisser Captain wurde angerufen, und Mr. Shankle war zuversichtlich, daß die Dinge ins Lot gebracht werden können. Mr. Shankles Bruder ist Richter, und wenn die Anklage nicht fallengelassen wird, gibt es noch andere Möglichkeiten. Aber bisher ist immer noch nicht bekannt, ob die Polizei nach mir sucht oder nicht. Booker würde noch ein paar weitere Anrufe machen und mich auf dem laufenden halten.
Booker hat bereits ein Büro in der Kanzlei Shankle. Er hat schon in den letzten beiden Jahren stundenweise dort gearbeitet und dabei mehr gelernt als fünf von uns übrigen zusammen. Zwischen den Vorlesungen ruft er eine Sekretärin an, jongliert gekonnt mit seinem Terminkalender, erzählt mir von diesem und jenem Mandanten. Er wird einen guten Anwalt abgeben.
Es ist unmöglich, mit einem Kater klar zu denken. Ich kritzele Notizen an mich selbst auf einen Block, so von der Art, daß ich es geschafft habe, ungesehen in dieses Gebäude zu gelangen, aber wie geht's weiter? Ich werde ein paar Stunden hier warten, bis sich der Bau geleert hat. Es ist Freitagnachmittag, die trägste Zeit der Woche. Dann werde ich mich in die Stellenvermittlung schleichen und der Leiterin des Büros mein Leid klagen. Wenn ich Glück habe, gibt es vielleicht irgendeine obskure Behörde, die jeder andere Bewerber verschmäht hat und die immer noch zwanzigtausend im Jahr für einen klugen juristischen Kopf offeriert. Oder vielleicht hat ein kleiner Betrieb plötzlich festgestellt, daß er unbedingt einen Firmenanwalt braucht. An diesem Punkt sind nicht mehr viele Vielleichts übrig.
In Memphis gibt es eine Legende mit Namen Jonathan Lake, einen Absolventen der Fakultät, dem es auch nicht gelungen war, bei einer der großen Kanzleien in der Innenstadt einen Job zu bekommen. Das war vor ungefähr zwanzig Jahren. Die etablierten Kanzleien wollten Lake nicht haben, also mietete er ein paar Räume und brachte ein Schild an, auf dem stand, daß er bereit war, zu prozessieren. Er hungerte ein paar Monate, dann stürzte er eines Abends mit seinem Motorrad und wachte mit einem gebrochenen Bein in St. Peter's, dem Wohlfahrtskrankenhaus der Stadt, wieder auf. Bald danach wurde das Bett neben ihm mit einem Mann belegt, der ebenfalls einen Motorradunfall gehabt hatte. Dieser Mann hatte mehrere Knochenbrüche und außerdem erhebliche Brandwunden. Seine Freundin hatte sogar noch schlimmere Verbrennungen erlitten und starb nach ein paar Tagen. Lake und der Mann freundeten sich an. Lake übernahm beide Fälle. Wie sich herausstellte, war der Fahrer des Jaguars, der ein Stoppschild überfahren und das Motorrad gerammt hatte, auf dem Lakes neue Mandanten saßen, zufällig der Seniorpartner der drittgrößten Kanzlei von Memphis. Außerdem war er derselbe Mann, der sechs Monate zuvor das Vorstellungsgespräch mit Lake geführt und ihn abgewiesen hatte. Und er war betrunken, als er das Stoppschild überfuhr.
Lake stürzte sich in den Prozeß. Der betrunkene Seniorpartner hatte tonnenweise Versicherungen, mit denen seine Kanzlei Lake sofort zu überschütten begann. Alle wollten einen schnellen Vergleich. Sechs Monate, nachdem er das Anwaltsexamen bestanden hatte, schloß Lake die Fälle mit einer Vergleichssumme von zwei Komma sechs Millionen Dollar ab. In bar, keine langfristigen Auszahlungsvereinbarungen. Bar auf die Hand.
Der Legende zufolge hatte der Motorradfahrer, während sie beide im Krankenhaus lagen, gesagt, weil Lake so jung wäre und gerade mit dem Studium fertig, sollte er die Hälfte von dem bekommen, was er herausholte. Lake hatte es nicht vergessen. Der Motorradfahrer hielt Wort. Lake strich eins Komma drei Millionen ein, der Legende zufolge.
Was mich betrifft — ich würde mich mit meinen eins Komma drei Millionen in die Karibik absetzen, meine eigene Yacht segeln und Rumpunsch trinken.
Nicht so Lake. Er baute sich ein Büro, füllte es mit Sekretärinnen und Anwaltsgehilfen und Boten und Ermittlern und machte sich ernsthaft an die Arbeit. Er schuftete achtzehn Stunden am Tag und scheute sich nicht, jedermann vor Gericht zu bringen, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen. Er studierte fleißig, lernte ständig hinzu und wurde bald der schärfste Prozeßanwalt in ganz Tennessee.
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