«Gut«, sage ich.»Danke, Booker.«
«Keine Ursache. Ich glaube, du kannst dich jetzt wieder hinauswagen. Das heißt, falls du dich von deinen Recherchen losreißen kannst.«
«Ich werde es versuchen.«
«Zweitens. Ich hatte ein langes Gespräch mit Mr. Shankle. Komme gerade aus seinem Büro. Und, also, im Moment ist nichts frei. Er hat drei neue Leute eingestellt, mich und zwei weitere aus Washington, und er weiß nicht einmal, wo er sie unterbringen soll. Er ist schon jetzt auf der Suche nach größeren Räumlichkeiten.«
«Das hättest du nicht zu tun brauchen, Booker.«
«Nein. Aber ich wollte es. Nicht der Rede wert. Mr. Shankle hat versprochen, ein paar Fühler auszustrecken, ein bißchen auf den Busch zu klopfen, du weißt schon. Er kennt eine Menge Leute.«
Ich bin so gerührt, daß mir beinahe die Worte fehlen. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte ich Aussicht auf einen guten Job mit einem hübschen Gehalt. Jetzt habe ich Leute, die ich nicht einmal kenne und die versuchen, ihren Einfluß geltend zu machen und irgendein winziges Fetzchen Arbeit für mich aufzuspüren.
«Danke«, sage ich, beiße mir auf die Lippe und starre auf meine Finger.
Er schaut auf die Uhr.»Ich muß los. Wollen wir morgen früh für das Examen lernen?«
«Natürlich.«
«Ich rufe dich an. «Er schlägt mir einmal aufmunternd auf die Schulter und verschwindet.
Um genau zehn Minuten vor fünf steige ich die Treppe zum Erdgeschoß hinauf und verlasse die Bibliothek. Ich halte jetzt nicht mehr Ausschau nach Polizisten, fürchte mich nicht davor, Sara Plankmore zu begegnen, mache mir nicht einmal mehr Sorgen wegen weiterer Zustellungsbeamter. Und ich habe praktisch überhaupt keine Angst vor unerfreulichen Begegnungen mit gewissen Kommilitonen. Sie sind alle verschwunden. Es ist Freitag, und die Fakultät ist menschenleer.
Das Vermittlungsbüro befindet sich im Erdgeschoß in der Nähe des Haupteingangs, wo die ganze Verwaltung untergebracht ist. Ich werfe einen Blick auf das Schwarze Brett, bleibe aber nicht davor stehen. Normalerweise hängen hier Dutzende von Stellenangeboten — bei großen und mittelgroßen Kanzleien, allein arbeitenden Anwälten, Privatfirmen, staatlichen Ämtern. Ein kurzer Blick sagt mir, was ich bereits weiß. Am Schwarzen Brett hängt keine einzige Notiz. Um diese Jahreszeit gibt es keinen Stellenmarkt.
Madeline Skinner leitet das Vermittlungsbüro hier schon seit Jahrzehnten. Einem Gerücht zufolge will sie in Pension gehen, aber ein anderes Gerücht besagt, daß sie jedes Jahr damit droht, um wieder irgend etwas aus dem Dekan herauszuquetschen. Sie ist sechzig und sieht aus wie siebzig, eine magere Frau mit kurzem grauen Haar, unzähligen Fältchen um die Augen herum und immer einer brennenden Zigarette im Aschenbecher. Vier Schachteln pro Tag heißt es, was schon irgendwie komisch ist, weil der Bau jetzt offiziell zur Nichtraucherzone erklärt wurde; aber niemand hat den Mut aufgebracht, Madeline das mitzuteilen. Sie ist eine überaus wichtige Persönlichkeit, weil sie die Leute anschleppt, die die Jobs anbieten. Wenn es keine Jobs gäbe, gäbe es auch keine Juristische Fakultät.
Und sie ist sehr gut bei dem, was sie tut. Sie kennt die richtigen Leute in den richtigen Kanzleien. Vielen der Leute, die jetzt für die Neueinstellungen zuständig sind, hat sie früher mal ihre Jobs verschafft, und sie ist brutal. Wenn ein Absolvent der Memphis State Personalchef einer großen Kanzlei ist und diese große Kanzlei Absolventen der Traditionsuniversitäten bevorzugt und unsere vernachlässigt, dann ruft, wie man sich erzählt, Madeline den Präsidenten der Universität an und bringt eine inoffizielle Beschwerde vor. Dann sucht, wie man sich ebenfalls erzählt, der Präsident die großen Kanzleien in der Innenstadt auf, speist mit den Partnern zu Mittag und stellt das Gleichgewicht wieder her. Madeline kennt jede freie Stelle in Memphis, und sie weiß ganz genau, wer für einen bestimmten Posten geeignet ist.
Aber ihr Job wird härter. Zu viele Leute mit einem juristischen Diplom. Und dies ist keine der Traditionsuniversitäten.
Sie steht beim Wasserkühler und schaut zur Tür, als wartete sie auf mich.»Hallo, Rudy«, sagt sie mit einer Stimme wie Sandpapier. Sie ist allein, alle anderen sind gegangen. In der einen Hand hält sie einen Becher mit Wasser, in der anderen eine dünne Zigarette.
«Hi«, sage ich mit einem Lächeln, als wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt.
Sie deutet mit dem Becher auf die Tür zu ihrem Büro.»Lassen Sie uns da drinnen reden.«
«Gern«, sage ich und folge ihr hinein. Sie macht die Tür zu und deutet auf einen Stuhl. Ich lasse mich darauf nieder, und sie setzt sich auf die Kante des Stuhls hinter ihrem Schreibtisch.
«Harter Tag, wie?«sagt sie, als wüßte sie über alles Bescheid, was vorgefallen ist.
«Habe schon bessere erlebt.«
«Ich habe heute morgen mit Loyd Beck gesprochen«, sagt sie langsam. Ich wollte, er wäre tot.
«Und was hat er gesagt?«frage ich in möglichst arrogantem Tonfall.
«Nun, ich habe gestern abend von der Fusion erfahren, und da habe ich mir Ihretwegen Sorgen gemacht. Sie waren der einzige, den wir bei Broadnax and Speer untergebracht hatten, also lag mir viel daran, zu erfahren, was mit Ihnen passiert.«
«Und?«
«Die Fusion kam ganz plötzlich, einmalige Chance und so weiter.«
«Dasselbe Gewäsch, mit dem man mich abgespeist hat.«
«Dann habe ich ihn gefragt, wann man Sie über die Fusion unterrichtet hat, und er redete um den heißen Brei herum und behauptete, dieser Partner oder jener Partner hätte mehrfach versucht, Sie anzurufen, aber das Telefon wäre abgestellt gewesen.«
«Das Telefon war vier Tage lang abgestellt.«
«Jedenfalls habe ich ihn gefragt, ob er mir eine Kopie des Schriftwechsels zwischen Broadnax and Speer und Ihnen, Rudy Baylor, faxen könnte, der sich auf die Fusion bezieht und Ihre Position, nachdem sie stattgefunden hat.«
«Es gibt keinen.«
«Ich weiß. Das zumindest hat er zugegeben. Es läuft darauf hinaus, daß er nichts unternommen hat, bis die Fusion unter Dach und Fach war.«
«Das stimmt. Nichts.«
«Also habe ich ihm in allen Einzelheiten klargemacht, daß er einen unserer Graduierten aufs Kreuz gelegt hat, und wir hatten am Telefon einen fürchterlichen Streit.«
Ich kann nicht anders, ich muß lächeln. Ich weiß, wer bei diesem Streit gewonnen hat.
Sie fährt fort:»Beck schwört, daß man Sie behalten wollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das glauben kann, aber ich habe ihm erklärt, daß er schon vor langer Zeit darüber mit Ihnen hätte reden müssen. Sie sind Student, kurz vor der Graduierung, fast ein fertiger Anwalt, kein Eigentum. Ich habe ihm gesagt, ich wüßte, daß sein Laden eine Tretmühle ist, aber die Zeiten der Sklaverei wären vorbei. Er kann Sie nicht einfach nehmen oder wegschicken, vor die Tür setzen oder behalten, schützen oder umbringen.«
Braves Mädchen. Genau meine Meinung.
«Wir beendeten den Streit, und ich habe den Dekan aufgesucht. Der Dekan hat Donald Hucek angerufen, den geschäftsführenden Partner bei Tinley Britt. Es folgten einige weitere Telefonate, und Hucek war wieder am Apparat mit derselben Story — Beck wollte Sie behalten, aber Sie würden Tinley Britts
Anforderungen an neue Mitarbeiter nicht genügen. Der Dekan war mißtrauisch, also sagte Hucek, er würde einen Blick auf die Arbeiten werfen, die Sie vorgelegt hätten.«
«Ich wäre bei Trent & Brent fehl am Platze«, sage ich wie ein Mann mit vielen Optionen.
«Der Ansicht ist Hucek auch. Er sagte, Tinley Britt würde lieber passen.«
«Gut«, sage ich, weil mir nichts Intelligentes einfällt. Sie weiß es besser. Sie weiß, daß ich hier sitze und leide.
«Bei Tinley Britt haben wir nicht viel Einfluß. In den vergangenen drei Jahren haben sie nur fünf von unseren Graduierten eingestellt. Sie sind so groß geworden, daß man sie nicht unter Druck setzen kann. Offen gestanden, ich würde dort nicht arbeiten wollen.«
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