Der Brief besteht aus nur einem Absatz, von Loyd Beck an mich, der mir die Neuigkeit schonend beibringt und mir alles Gute wünscht. Die Fusion kam» plötzlich und unerwartet«.
Ich werfe den Brief auf den Boden und halte Ausschau nach etwas, das ich außerdem noch werfen kann. Hinter mir ist alles ruhig. Ich bin sicher, sie haben sich hinter verschlossenen Türen verschanzt und warten ab, bis ich und die anderen Unerwünschten verschwunden sind. Auf einem Betonsockel neben der Tür steht die scheußliche Bronzeplastik mit dem feisten Gesicht des alten Broadnax, und ich spucke sie im Vorübergehen an. Sie bleibt völlig ungerührt. Also gebe ich ihr eine Art Schubs, während ich die Tür öffne. Der Sockel schwankt, und der Kopf kippt nach hinten weg.
«Hey!«dröhnt eine Stimme hinter mir, und gerade als die Büste gegen die Glaswand prallt, sehe ich, wie der Wachmann auf mich zugerannt kommt.
Eine Mikrosekunde lang denke ich daran, stehenzubleiben und mich zu entschuldigen, aber dann sprinte ich durch das Foyer und reiße die Tür zum Treppenhaus auf. Er brüllt wieder hinter mir her. Ich rase abwärts, so schnell ich kann. Er ist zu alt und zu fett, um mich einholen zu können.
Durch eine Tür in der Nähe der Fahrstühle gelange ich in die Halle. Sie ist leer. Ich gehe ruhig auf die Tür zur Straße zu und verlasse des Gebäude.
Es ist fast sieben und fast dunkel, als ich sechs Blocks entfernt an einem kleinen Supermarkt anhalte. Ein handgemaltes Schild offeriert einen Sechserpack billiges Light-Bier für drei Dollar. Ich brauche einen Sechserpack billiges Light-Bier.
Loyd Beck hat mich vor zwei Monaten eingestellt, meine Noten wären gut genug, meine Schriftsätze ordentlich, ich hätte bei den Einstellungsgesprächen einen guten Eindruck gemacht, alle wären einhellig der Ansicht, daß ich mich gut machen würde. Alles war in bester Ordnung. Eine strahlende Zukunft bei der guten alten Firma Broadnax and Speer.
Dann winkt Trent & Brent mit ein paar Dollars, und die Partner gehen vor Freude in die Luft. Diese gierigen Schweine machen dreihunderttausend im Jahr, und sie wollen noch mehr.
Ich gehe hinein und kaufe das Bier. Nach Abzug der Steuern habe ich noch vier Dollar und ein bißchen Kleingeld in der Tasche. Auf meinem Konto sieht es kaum besser aus.
Ich sitze neben der Telefonzelle in meinem Wagen und kippe die erste Dose. Seit meinem köstlichen Lunch mit Dot und Buddy und Bosco und Miss Birdie vor etlichen Stunden habe ich nichts gegessen. Vielleicht hätte ich wie Bosco eine Extraportion Götterspeise nehmen sollen. Das kalte Bier rauscht in meinen leeren Magen, und ich spüre sofort seine Wirkung.
Die Dosen sind schnell geleert. Die Stunden vergehen, während ich auf den Straßen von Memphis herumfahre.
Meine Behausung ist eine schäbige Zweizimmerwohnung im ersten Stock eines zerfallenden Ziegelsteingebäudes, das den Namen The Hampton trägt; zweihundertfünfundsiebzig pro Monat, selten fristgemäß bezahlt. Es ist einen Block von einer belebten Straße entfernt, eine Meile vom Campus. Hier war seit fast drei Jahren mein Zuhause. In der letzten Zeit habe ich oft daran gedacht, mich mitten in der Nacht einfach lautlos hinauszuschleichen und dann zu versuchen, eine monatliche Abzahlung während der nächsten zwölf Monate auszuhandeln. Bis jetzt bin ich bei diesen Plänen immer von einem Job und einem monatlichen Gehaltsscheck von Broadnax and Speer ausgegangen. Im Hampton wimmelt es von Studenten, Habenichtsen wie mir, und der Hauswirt ist es gewöhnt, Mietrückstände einzufordern.
Als ich kurz vor zwei Uhr ankomme, ist der Parkplatz still und dunkel. Ich parke in der Nähe der Mülltonnen, und als ich aus meinem Wagen krieche und die Tür schließe, sehe ich nicht weit entfernt eine plötzliche Bewegung. Ein Mann steigt schnell aus seinem Wagen aus, knallt die Tür zu und steuert direkt auf mich zu. Ich erstarre. Alles ist still und dunkel.
«Sind Sie Rudy Baylor?«fragt er mich ins Gesicht. Er ist ein richtiggehender Cowboy — spitze Stiefel, enge Levis, Jeanshemd, kurzgeschnittenes Haar und Bart. Er kaut schmatzend auf einem Kaugummi herum und sieht aus, als hätte er nichts gegen ein paar Handgreiflichkeiten einzuwenden.
«Wer sind Sie?«frage ich.
«Sind Sie Rudy Baylor? Ja oder nein?«
«Ja.«
Er zieht ein paar Papiere aus seiner Gesäßtasche und hält sie mir hin.»Tut mir leid«, sagt er aufrichtig.
«Was ist das?«frage ich.
«Vorladungen.«
Ich nehme langsam die Papiere. Es ist zu dunkel, um etwas
entziffern zu können, aber ich habe begriffen.»Sie sind Zustellungsbeamter?«
«Ja.«
«Texaoo?«
«Ja. Und The Hampton. Sie werden vor die Tür gesetzt.«
Wenn ich nüchtern wäre, würde mich der Anblick eines Zwangsräumungsbefehls vielleicht schockieren. Aber für einen Tag habe ich schon genug einstecken müssen. Ich werfe einen Blick auf das dunkle, schäbige Gebäude mit Müll auf dem Rasen und Unkraut auf den Wegen und frage mich, wie dieser jämmerliche Bau es fertiggebracht hat, mich kleinzukriegen.
Er tritt einen Schritt zurück.»Da steht alles drin«, erklärt er.»Tag der Verhandlung, Namen von Anwälten und so weiter. Wahrscheinlich können Sie die ganze Sache mit ein paar Anrufen klären. Aber das geht mich nichts an. Nicht mein Job.«
Was für ein Job. Sich im Schatten verstecken, sich auf nichtsahnende Leute stürzen, ihnen Papiere in die Hand drücken, ein paar Worte kostenlosen juristischen Rat von sich geben und dann verschwinden, um jemand anderen zu terrorisieren.
Im Davongehen bleibt er noch einmal stehen und sagt:»Übrigens, ich war früher bei der Polizei und habe ein Funkgerät im Wagen. Vor ein paar Stunden kam eine komische Meldung durch. Irgendein Typ namens Rudy Baylor hat in der Innenstadt eine Anwaltskanzlei demoliert. Der Beschreibung nach könnten Sie es gewesen sein. Auch Typ und Baujahr des Wagens stimmen. Aber Sie waren es wohl nicht.«
«Und wenn doch?«
«Das ist nicht meine Sache. Aber die Polizei sucht nach Ihnen. Beschädigung von Privateigentum.«
«Sie meinen, man wird mich verhaften?«
«Ja. Ich an Ihrer Stelle würde heute nacht woanders schlafen.«
Er steigt in seinen Wagen, einen BMW. Ich sehe zu, wie er wegfährt.
Booker erwartet mich auf der Vortreppe seiner hübschen Doppelhaushälfte. Er trägt einen Paisley-Morgenrock über dem
Schlafanzug. Keine Slipper, nur nackte Füße. Booker mag auch nur ein mittelloser Jurastudent sein, der die Tage zählt, bis er anfangen kann zu arbeiten, aber er ist sehr modebewußt. In seinem Kleiderschrank hängt nicht viel, aber seine Garderobe ist mit Bedacht ausgewählt.»Was zum Teufel ist los mit dir?«fragt er ein wenig barsch mit noch schlaftrunkenen Augen. Ich habe ihn von einem Münzfernsprecher im Junior Food Mart um die Ecke aus angerufen.
«Tut mir leid«, sage ich, als wir ins Wohnzimmer gehen. Ich kann Charlene in der winzigen Küche sehen, gleichfalls in einem Paisley-Morgenrock und mit verschlafenen Augen. Sie macht Kaffee oder sonst etwas. Irgendwo im Hintergrund höre ich ein Kind weinen. Es ist fast drei Uhr nachts, und ich habe die ganze Familie aufgeweckt.
«Setz dich«, sagt Booker, nimmt mich am Arm und schiebt mich sanft aufs Sofa.»Du hast getrunken.«
«Ich bin betrunken, Booker.«
«Irgendein spezieller Grund?«Er steht vor mir, ungefähr wie ein wütender Vater.
«Das ist eine lange Geschichte.«
«Du hast die Polizei erwähnt.«
Charlene stellt eine Tasse heißen Kafee auf den Tisch neben mir.»Bist du okay, Rudy?«fragt sie mit ihrer süßesten Stimme.
«Mir geht's großartig«, erwidere ich angeberisch.
«Geh und sieh nach den Kindern«, sagt Booker zu ihr, und sie verschwindet.
«Tut mir leid«, sage ich wieder. Booker läßt sich dicht neben mir auf der Kante des Beistelltisches nieder und wartet.
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