Sie versucht, mich zu trösten, mir das Gefühl zu vermitteln, daß mir etwas Gutes widerfahren ist. Wer braucht schon Trent & Brent und ihre Anfangsgehälter von fünfzigtausend Dollar im Jahr?
«Also, was ist noch übrig?«frage ich.
«Nicht viel«, sagt sie schnell.»Im Grunde gar nichts. «Sie wirft einen Blick auf ein paar Notizen.»Ich habe alle angerufen, die ich kenne. Da war ein Job als Assistent eines Pflichtverteidigers, Teilzeit, Zwölftausend im Jahr, aber der wurde vor zwei Tagen vergeben. Ich habe ihn Hall Pasterini verschafft. Sie kennen Hall? Er hat Glück gehabt. Endlich ein Job für ihn.«
Ich wollte, das Glück hätte ich auch.
«Und dann sind da noch zwei Stellen als Firmenanwalt bei kleinen Unternehmen, aber beide bestehen auf bestandenem Anwaltsexamen.«
Das Anwaltsexamen ist im Juli. Praktisch jede Kanzlei stellt ihre neuen Leute unmittelbar nach der Graduierung ein, bezahlt sie, bereitet sie auf das Examen vor, und wenn sie es bestanden haben, läuft alles wie am Schnürchen weiter.
Sie legt ihre Notizen auf den Tisch.»Ich bohre weiter, okay? Vielleicht ergibt sich doch noch etwas.«
«Was soll ich tun?«
«Klinken putzen. Es gibt in dieser Stadt dreitausend Anwälte, und die meisten von ihnen praktizieren allein oder mit ein oder zwei anderen. Sie arbeiten nicht mit dem Vermittlungsbüro hier zusammen, also kennen wir sie nicht. Ich an Ihrer Stelle würde mit den kleinen Sozietäten anfangen, zwei, drei, vielleicht vier Anwälte, die zusammenarbeiten, und versuchen, ihnen einen Job abzuschwatzen. Bieten Sie ihnen an, Karteileichen zu bearbeiten, das Geld für sie einzutreiben…«
«Karteileichen?«frage ich.
«Na ja. Jeder Anwalt hat doch ein paar Karteileichen, die er in irgendeiner vergessenen Ecke vor sich hin modern läßt, und je länger sie dort liegen, desto schlimmer stinken sie. Das sind die Fälle, von denen jeder Anwalt wünscht, er hätte sie nie übernommen.«
Was sie einem doch beim Studium alles nicht beibringen.
«Darf ich etwas fragen?«
«Natürlich.«
«Dieser Rat, den Sie mir eben gegeben haben, daß ich Klinken putzen soll — wie oft haben Sie den in den letzten drei Monaten erteilt?«
Sie lächelt kurz, dann konsultiert sie einen Computerausdruck.»Wir haben noch ungefähr fünfzehn Graduierte auf der Suche nach einem Job.«
«Also sind diese Leute vermutlich gerade jetzt unterwegs und kämmen die Straßen durch.«
«Vermutlich. Aber im Grunde ist das schwer zu sagen. Einige von ihnen haben andere Pläne, über die sie mich nicht immer informieren.«
Es ist nach fünf, und sie möchte gehen.»Danke, Mrs. Skinner. Für alles. Es ist schön zu wissen, daß sich jemand um mich sorgt.«
«Ich sehe mich weiter um, das verspreche ich Ihnen. Schauen Sie nächste Woche wieder herein.«
«Das werde ich. Danke.«
Ich kehre unbemerkt in meine Arbeitsnische zurück.
Das Birdsong-Haus liegt am Rande der Innenstadt, in einer älteren, wohlsituierten Gegend, nur ein paar Meilen von der Juristischen Fakultät entfernt. Die Straße ist von sehr alten Eichen gesäumt und macht einen ruhigen Eindruck. Einige der Häuser sind recht ansehnlich, mit manikürten Rasenflächen und funkelnden Luxuskarossen in der Auffahrt. Andere dagegen wirken fast verlassen und lugen unheimlich durch dichtes Gestrüpp von unbeschnittenen Bäumen und wuchernden Sträuchern. Wieder andere liegen irgendwo dazwischen. Das Haus von Miss Birdie ist ein weißer Bau aus der Zeit um die Jahrhundertwende mit einer breiten, an einer Seite um die Ecke führenden Veranda. Es braucht einen Anstrich, ein neues Dach und eine Menge Arbeit im Garten. Die Fenster sind schmutzig und die Regenrinnen mit Blättern verstopft, aber es ist offensichtlich, daß hier jemand wohnt und versucht, es instand zu halten. Die Auffahrt säumen unbeschnittene Hecken. Ich stelle meinen Wagen hinter einen schmutzigen Cadillac, der vermutlich zehn Jahre alt ist.
Ich gehe über knarrende Verandaplanken zur Haustür und halte Ausschau nach einem großen Hund mit gebleckten Zähnen. Es ist schon spät, fast dunkel, und auf der Veranda brennt kein Licht. Die schwere Holztür steht weit offen, und durch das Fliegengitter kann ich eine kleine Diele erkennen. Ich finde keinen Klingelknopf, also klopfe ich leise an die Fliegentür. Sie klappert lose in den Angeln. Ich halte den Atem an — kein Hundegebell.
Kein Laut, keine Bewegung. Ich klopfe ein bißchen lauter.
«Wer ist da?«ruft eine vertraute Stimme.
«Miss Birdie?«
Eine Gestalt bewegt sich durch die Diele, ein Licht wird eingeschaltet, und da ist sie, in demselben Baumwollkleid, das sie auch gestern im Cypress Gardens Senior Citizens Building getragen hat. Sie blinzelt durch die Tür.
«Ich bin's, Rudy Baylor. Der Jurastudent, mit dem Sie gestern gesprochen haben.«
«Rudy!«Sie ist hoch erfreut, mich zu sehen. Einen Moment lang bin ich etwas verlegen, dann plötzlich traurig. Sie lebt allein in diesem monströsen Haus, und sie ist überzeugt, daß ihre Angehörigen sie im Stich gelassen haben. Der Höhepunkt ihres Tages besteht darin, daß sie sich um diese alten Leute kümmert, die zum Lunch und ein oder zwei Liedern zusammenkommen. Miss Birdie ist ein sehr einsamer Mensch.
Sie hakt schnell die Fliegentür auf.»Kommen Sie herein, kommen Sie herein«, sagt sie ohne auch nur einen Anflug von Neugierde. Sie ergreift meinen Ellenbogen und zieht mich durch die Diele und einen Flur entlang, wobei sie einen Lichtschalter nach dem anderen betätigt. An den Wänden hängen Dutzende von alten Familienporträts. Die Teppiche sind staubig und abgetreten. Es riecht schimmlig und muffig — ein altes Haus, das dringend geputzt und renoviert werden müßte.
«Wie nett von Ihnen, mich zu besuchen«, sagt sie zuckersüß, ohne meinen Ellenbogen loszulassen.»Hat Ihnen der Besuch bei uns gestern Spaß gemacht?«
«Ja, Madam.«
«Wollen Sie nicht bald einmal wiederkommen?«
«Ich kann es kaum abwarten.«
Sie deponiert mich am Küchentisch.»Kaffee oder Tee?«fragt sie, während sie auf Schränke zusteuert und auf Lichtschalter drückt.
«Kaffee«, sage ich, dann sehe ich mich um.
«Mögen Sie Pulverkaffee?«
«Natürlich. «Nach drei Jahren Jurastudium kann ich Pulverkaffee nicht mehr von echtem unterscheiden.
«Milch? Zucker?«fragt sie und greift in den Kühlschrank.
«Schwarz, ohne alles.«
Sie setzt das Wasser auf und stellt die Tassen bereit, dann läßt sie sich mir gegenüber am Tisch nieder. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Ich habe ihren Tag gerettet.
«Ich freue mich ja so, Sie zu sehen«, sagt sie zum dritten oder vierten Mal.
«Sie haben ein wunderschönes Haus, Miss Birdie«, sage ich, die muffige Luft einatmend.
«Oh, danke. Thomas und ich haben es vor fünfzig Jahren gekauft.«
Töpfe und Pfannen, Ausguß und Wasserhähne, Herd und Toaster — alles ist mindestens vierzig Jahre alt. Der Kühlschrank stammt offensichtlich aus den frühen sechziger Jahren.
«Thomas ist vor elf Jahren gestorben. Wir haben unsere beiden Söhne in diesem Haus großgezogen, aber über die möchte ich lieber nicht reden. «Ihr fröhliches Gesicht ist einen Moment lang ernst, aber das Lächeln kehrt rasch zurück.
«Klar. Natürlich nicht.«
«Lassen Sie uns von Ihnen reden«, sagt sie. Das ist ein Thema, das ich nun lieber vermeiden würde.
«Klar. Weshalb nicht?«Ich wappne mich für ihre Fragen.
«Wo kommen Sie her?«
«Ich bin hier geboren, aber in Knoxville aufgewachsen.«
«Wie nett. Und wo haben Sie das College besucht?«
«Austin Peay.«
«Austin was?«
«Austin Peay. Das ist ein kleines College in Clarksville. Staatlich gefördert.«
«Wie nett. Weshalb sind Sie zum Jurastudium an die Memphis State gekommen?«
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