»Wie habt ihr gewusst, wo ihr uns findet?«, fragte er. »Und vor allem, in welchem Land ihr überhaupt suchen müsst?«
»Du scheinst zu vergessen, dass ich Fährtensucher von Beruf bin«, sagte Crowe. »Als du nicht ins Hotel zurückgekommen bist und als wir merkten, dass Ginny verschwunden war, haben wir versucht, eure Spuren zurückzuverfolgen. Ich hab Berichte über das Feuer im Rotherhithe-Tunnel gehört, und als ich ein bisschen herumgefragt habe, stellte sich heraus, dass ein Junge in deinem Alter gesehen worden war, wie er davonrannte. Mittlerweile hatte Matty den Droschkenkutscher aufgespürt, der Ginny zum Hafen gebracht hatte. Als wir dort angekommen sind, war Maupertuis’ Schiff schon in See gestochen. Aber wir haben einen Lademeister aufgestöbert, der sich daran erinnern konnte, euch an Bord gesehen zu haben. Oder besser gesagt, wie ihr an Bord geschleppt wurdet, wie er sich genau ausdrückte. Das Schiff war wie gesagt schon in See gestochen, doch er erinnerte sich daran, gehört zu haben, wie die Matrosen davon sprachen, dass es diesmal ja nur ein kurzer Trip über den Englischen Kanal nach Cherbourg werden würde. Also mieteten wir uns einen Fischkutter und fuhren hinterher, um nach euch zu suchen. Wir trafen unmittelbar nach Maupertuis’ Schiff hier ein. Entweder waren sie sehr langsam, oder sie haben unterwegs noch irgendwo haltgemacht, da bin ich mir nicht sicher.« Seine Stimme klang fest und bedächtig wie immer, und seine Worte verrieten nichts darüber, wie es in ihm aussah.
Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass er irgendwie älter und müder wirkte. Er hatte den Arm immer noch um Virginias Schultern geschlungen und hielt sie fest an sich gedrückt, während Virginia keine Anstalten machte, sich aus der Umarmung zu lösen.
»Ich habe herausgefunden, dass der Baron hier in der Nähe ein Anwesen besitzt und war gerade dabei, eine Gruppe aus Einheimischen zu rekrutieren, als ihr aufgetaucht seid. Ein glückliches und nützliches Zusammentreffen unserer Wege, würde ich sagen.«
»Da haben Sie recht und jetzt wird mir einiges klar«, erwiderte Sherlock. »Wir haben uns zu dem Hafen begeben, der Maupertuis’ Château am nächsten liegt. Denn dort würde ja mit großer Wahrscheinlichkeit sein Schiff festmachen, und ihr wiederum seid seinem Schiff gefolgt. Die Chance, dass es uns irgendwann alle nach Cherbourg verschlägt, war also groß.« Er lächelte. »Das einzig Erstaunliche daran ist, dass ihr ein Schiff aufgetrieben habt, das nach der Hauswirtschafterin meines Onkels benannt wurde.«
»Ihr eigentlicher Name war Rosie Lee «, antwortete Crowe und musste nun seinerseits lächeln. »Ich dachte mir, ein etwas vertrauterer Name könnte deine Aufmerksamkeit erregen, solltest du in der Gegend sein und dich nach einer Rückkehrmöglichkeit nach England umsehen. Ich wollte sie eigentlich erst in Mycroft Holmes umtaufen, aber der Kapitän machte mir unmissverständlich klar, dass Schiffe und Boote nur weibliche Namen tragen.«
»Sie haben damit gerechnet , dass wir dem Baron entkommen?«
Crowe nickte. »Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn ihr es nicht geschafft hättet. Schließlich bist du mein Schüler und Ginny mein Fleisch und Blut. Was wäre ich bloß für ein Lehrer, wenn ihr beide einfach dagesessen und nichts gegen eure Gefangenschaft unternommen hättet.« Seine Worte waren scherzhaft gemeint, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. Dennoch meinte Sherlock in Crowe ein tiefes, unterschwelliges Gefühl des Unbehagens, ja vielleicht sogar der Angst zu verspüren, das sich durch ihr Auftauchen gerade erst zu verflüchtigen begonnen hatte.
Crowe streckte seine große Hand aus und drückte Sherlocks Schulter. »Du hast auf sie aufgepasst«, sagte er leise. »Dafür danke ich dir.«
»Ich weiß, dass alles, was Sie unternommen haben, um hierherzukommen, aus logischen Erwägungen erfolgte«, antwortete Sherlock ebenso leise, »und es hat alles funktioniert. Aber was, wenn es das nicht hätte? Was, wenn wir gar nicht entkommen wären oder einen anderen Weg eingeschlagen hätten oder wenn Sie sich an einem Hafenende befunden hätten, während wir am entgegengesetzten Ende ein anderes Schiff bestiegen hätten? Was dann?«
»Dann wären die Dinge anders gelaufen«, sagte Crowe. »Wir stehen hier zusammen, weil die Dinge so geschehen sind, wie sie es nun einmal sind. Mit Logik kannst du die Chancen zu deinen Gunsten verbessern, aber man muss immer auch mit dem Zufall rechnen. Dieses Mal hatten wir Glück. Das nächste Mal … Wer weiß?«
»Ich rechne nicht damit, dass es ein ›nächstes Mal‹ geben wird«, erwiderte Sherlock. »Aber wir müssen trotzdem die Pläne des Barons durchkreuzen.«
»Ach, und wie sehen die aus?«, fragte Crowe und verzog verwundert das Gesicht. »Einen Teil des Puzzles habe ich schon zusammengesetzt, aber nicht alles.«
Rasch berichteten Sherlock und Virginia von den Bienen, den vergifteten Uniformen und dem teuflischen Plan, einen beträchtlichen Teil der britischen Armee in ihren Garnisonen in England zu töten. Crowe war hinsichtlich der Effizienz des Planes ebenso skeptisch wie Sherlock, doch er stimmte darin überein, dass es zumindest einige Todesfälle geben würde und selbst ein einzelner Tod schon zu viel wäre. Die Bienen mussten aufgehalten werden.
»Aber wie finden die Bienen den Weg übers Meer nach England und dann weiter zu den Garnisonen?«, fragte Crowe.
»Ich habe in der Bibliothek meines Onkels einiges über Bienen gelesen«, antwortete Sherlock. »Bienen sind ganz erstaunliche Kreaturen. Sie können zwischen Hunderten verschiedener Düfte unterscheiden. Düfte von weitaus geringerer Konzentration, als sie ein Mensch wahrnehmen könnte. Auf der Suche nach diesen Düften können sie meilenweit fliegen. Ich wäre nicht überrascht, wenn es klappen würde.« Er hielt kurz inne, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Er hat von einem Fort gesprochen. Als er seinem Gehilfen – diesem MrSurd – befohlen hat, die Bienen freizulassen. Das sollte von einem Fort aus passieren. Gibt es irgendwelche Befestigungen an dieser oder an der englischen Küste, die sie benutzen könnten?«
»Ist vielleicht nicht gerade die Art von Fort, an die du denkst«, meldete sich plötzlich Matty zu Wort.
»Was meinst du damit?«
»Rund um Southampton, Portsmouth und der Isle of Wight gibt’s Forts. Mitten im Englischen Kanal. Sind so was wie künstliche Inseln«, sagte er. »Sind für den Fall gebaut worden, dass Napoleon mal ’ne Invasion in England macht. Die meisten sind jetzt verlassen, weil die Invasion nie gekommen ist.«
»Woher weißt du das?«, fragte Virginia.
Mattys Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Mein Dad war in einem stationiert. Als er in der Navy war. Hat mir alles davon erzählt.«
»Und wie kommst du darauf, dass Maupertuis eins davon benutzt?«, fragte Sherlock.
»Du hast erzählt, wie sehr er die Briten hasst. Für das, was mit ihm passiert ist. Macht doch irgendwie Sinn, wenn er dann eins von den Forts, die wir damals gebaut haben, um uns vor den Franzosen zu verteidigen, nun gegen uns benutzt, oder?«
Crowe nickte. »Da hat der Junge nicht ganz Unrecht. Außerdem hat sein Schiff London ja schon eine ganze Weile verlassen, bevor Matty und ich uns ein Boot besorgen konnten. Und trotzdem haben sie Cherbourg nur kurz vor uns erreicht. Sie müssen an einem der Forts Halt gemacht haben, um die Bienenstöcke abzuladen.«
»Aber es gibt jede Menge davon«, sagte Matty. »Wir haben keine Zeit, alle zu durchsuchen.«
»Er würde nicht wollen, dass die Bienen zu weit fliegen müssen«, meinte Sherlock. »Wir suchen nach einem Fort, das ziemlich nah an der Küste liegt. Und er würde Wert darauf legen, dass sich die Bienen schon in relativer Nähe zu einer ziemlich großen Garnison befinden. Wir brauchen eine Karte von England und der englischen Küste. Dann ziehen wir Linien zwischen jedem Fort auf See und jeder Garnison. Das, was wir suchen, ist die kürzeste Linie.« Er blickte zwischen Amyus Crowes und Virginias verwunderten Gesichtern hin und her. »Einfache Geometrie«, erklärte er.
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