Gewidmet den Jugendschriftstellern, deren Werke ich in meiner Jugend verschlungen habe: Capt. W. E. Johns, Hugh Walters, Andre Norton, Malcolm Saville, Alan E. Norse und John Christopher;
sowie meinen modernen Schriftstellerkollegen, die ich mich glücklich schätze, persönlich zu kennen, für ihre freundschaftliche Unterstützung: Ben Jeapes, Stephen Cole, Justin Richards, Gus Smith und dem unvergleichlichen Charlie Higson.
Als Matthew Arnatt das erste Mal der Todeswolke begegnete, kam sie aus einem Fenster im ersten Stock geschwebt. Drohend und unheilvoll wie ein bösartiger Geist, den man aus seiner Flasche gelassen hatte.
Matthew lebte noch nicht lange in der Gegend. Er streunte gerade auf der Hauptstraße des Städtchens Farnham herum, um Ausschau nach Früchten oder Brotkrusten zu halten, die vielleicht ein gleichgültiger Passant hatte fallen lassen. Eigentlich hätte sein Blick auf den Boden gerichtet sein müssen. Doch stattdessen hatte er nur Augen für die Häuser, Läden und das Menschengewimmel um ihn herum. Er war erst vierzehn und, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zuvor in einer so großen Stadt gewesen.
In diesem, dem wohlhabenderen Teil von Farnham, ragten die älteren Fachwerkhäuser so weit in die Straße hinein, dass sich die oberen Stockwerke wie drohende Steinwolken über den Passanten ballten.
Die Straße war zum Teil mit glatten, faustgroßen Steinen gepflastert. Doch ein Stück weiter wurden die Pflastersteine von gestampfter Erde abgelöst, auf der vorbeitrottende Pferde und ratternde Karren Wolken von Staub aufwirbelten. Alle paar Meter lagen Pferdeäpfelhaufen herum. Von Fliegen umschwirrt, dampften einige frisch vor sich hin, andere hingegen waren schon eingetrocknet und alt und sahen aus wie dreckverklumpte kleine Strohkugeln.
Der faulige Geruch des dampfenden Pferdedungs drang ihm in die Nase. Aber er konnte auch frisch gebackenes Brot riechen und etwas, bei dem es sich um ein Schwein handeln mochte, das gerade über offenem Feuer am Spieß gebraten worden war. In Gedanken konnte er förmlich das Fett vor sich sehen, wie es zischend in die Glut tropfte. Vor Hunger verkrampfte sich plötzlich Matthews Magen so heftig, dass er sich vor Schmerzen krümmte. Seit seiner letzten ordentlichen Mahlzeit waren schon ein paar Tage vergangen, und er war nicht sicher, wie lange er noch durchhalten würde.
Ein fetter Mann in einem dunklen abgetragenen Anzug und mit einer braunen Melone auf dem Kopf blieb stehen und streckte Matthew die Hand entgegen, als wollte er ihm helfen. Matthew wich zurück. Er wollte keine Mildtätigkeit. Mildtätigkeit brachte ein mittelloses Waisenkind wie ihn geradewegs ins Arbeitshaus oder in die Obhut der Kirche. Und er hatte nicht vor, den Pfad zu betreten, der ihn unweigerlich in eine dieser beiden Einrichtungen bringen würde. Es ging ihm ausgezeichnet alleine. Er musste nur etwas zu essen auftreiben. Sobald er etwas Ordentliches im Bauch hatte, würde es ihm wieder gut gehen.
Er schlüpfte in eine Gasse, bevor der Mann ihn an der Schulter packen konnte. Nachdem er dann noch einmal einen Haken geschlagen hatte und um eine weitere Ecke gebogen war, gelangte er in eine kleine Seitenstraße, die so schmal war, dass sich die oberen Stockwerke fast berührten. Man konnte glatt von einem Zimmer ins gegenüberliegende auf der anderen Straßenseite klettern, wenn man denn wollte.
Und dann sah er die Todeswolke. Nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt wusste, mit was er es da zu tun hatte. Das sollte er erst später erfahren. Nein, alles, was er sah, war ein Fleck. Dunkel und irgendwie bedrohlich, ungefähr so groß wie ein Hund und ähnlich wie Rauch, der aus einem offenen Fenster weht. Rauch allerdings, der sich nach eigenem Willen bewegte und einen Moment lang innehielt, bevor er seitwärts zu einem Regenrohr schwebte, wo er dann seine Richtung änderte und nach oben zum Dach hinaufglitt.
Der Hunger war vergessen. Mit offenem Mund beobachtete Matthew, wie die Wolke über die scharfe Dachziegelkante waberte und dann verschwand. Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille. Er war aus dem offenen Fenster gekommen. Matthew wirbelte herum und stürmte auf der Straße zurück, so schnell ihn seine unterernährten Beine trugen. So schrien Menschen nicht vor Überraschung. Nicht einmal aus Schock. Nein, so schrie nach Matthews Erfahrung nur ein Mensch, der dem Tod ins Gesicht blickte. Aber was immer auch den Schrei ausgelöst hatte, er verspürte nicht das geringste Verlangen, es mit eigenen Augen anzusehen.
»Du da! Herkommen!«
Sherlock Holmes drehte sich um, um zu sehen, wer gemeint war und wer gerufen hatte. An diesem Morgen standen Hunderte von Schülern im strahlenden Sonnenschein vor der Deepdene-Knabenschule herum. Alle in makelloser Schuluniform und mit einem ledergurtumspannten Holzkoffer oder einem Haufen vollgestopfter Gepäckstücke vor sich, die wie treue Hunde zu ihren Füßen lagen. Jeder von ihnen konnte gemeint sein. Die Lehrer in Deepdene hatten die Angewohnheit, die Schüler nie mit ihren Namen anzusprechen. Es hieß immer »Du!« oder »Junge!« oder »Kind!«. Das machte das Leben nicht gerade leicht und führte dazu, dass man ständig auf Zack sein musste. Was wohl auch der Grund dafür war, warum sie es taten. Entweder das oder die Lehrer hatten es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich die Namen ihrer Schüler zu merken. Sherlock war sich nicht sicher, welche Erklärung am ehesten zutraf. Vielleicht beide.
Keiner von den anderen Schülern zeigte eine Reaktion. Entweder plauderten sie mit Familienmitgliedern, die gekommen waren, um sie abzuholen, oder sie beobachteten ungeduldig das Schultor, wo jeden Augenblick die Kutsche auftauchen musste, die sie nach Hause bringen würde. Widerwillig drehte Sherlock sich um, um nachzusehen, ob der unheilvolle Finger des Schicksals auf ihn wies.
Das tat er tatsächlich. Besagter Finger gehörte in diesem Fall MrTulley, dem Lateinlehrer. Er war gerade an der Stelle um die Ecke des Schulgebäudes gebogen, an der Sherlock abseits von den anderen Jungen herumstand. MrTulleys normalerweise von Kreidestaub bedeckter Anzug war extra für das Schuljahresende und die unvermeidlichen Begegnungen mit den Vätern gereinigt worden. Vätern, die für die Erziehung ihrer Jungen viel Geld bezahlten. Sein Doktorhut saß so gerade auf dem Kopf, als hätte der Direktor selbst ihn dort festgeklebt.
»Ich, Sir?«
»Ja Sir, du Sir«, blaffte MrTulley. »Sieh zu, dass du quam celerrime ins Direktorzimmer kommst. Reicht dein Latein noch, um zu wissen, was das heißt?«
»Das heißt ›sofort‹, Sir.«
»Dann beweg dich.«
Sherlock warf einen Blick auf das Schultor. »Aber Sir … Ich warte auf meinen Vater. Er holt mich gleich ab.«
»Ich bin sicher, dass er nicht ohne dich fährt, Junge.«
Sherlock unternahm noch einen letzten kühnen Versuch. »Aber mein Gepäck …«
MrTulley blickte abfällig auf Sherlocks arg ramponierten Holzkoffer hinab – ein ausrangiertes Utensil seines Vaters, das diesen einst auf seinen Militärreisen begleitet hatte und nach jahrelangem Gebrauch nun völlig abgewetzt und schmutzig war. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so was stehlen sollte«, sagte er. »Außer vielleicht wegen seines historischen Wertes. Ich hole einen Vertrauensschüler, der für dich aufpasst. Jetzt lauf los.«
Widerwillig verließ Sherlock seine Habseligkeiten – ein paar spärliche Hemden und Unterwäsche, seine Gedichtbände und die Notizbücher, in denen er neben Ideen, Gedanken und Spekulationen hin und wieder auch Melodien notierte, die ihm in den Kopf kamen.
Er ging auf die Säulenreihe der Eingangshalle zu, die die Vorderseite des Schulgebäudes zierte. Während er sich dabei zwischen unzähligen Jungen, Eltern und kleineren Geschwistern hindurchschob, behielt er stets den Zufahrtsweg im Auge, wo gerade ein dichtes Gedränge aus Pferden und Kutschen herrschte, die alle gleichzeitig durch das schmale Tor herein oder heraus wollten.
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