Vorausgesetzt natürlich, dass sich Sherlock überhaupt noch einmal die Gelegenheit bieten würde, seinen Bruder wiederzusehen.
»Du möchtest daran glauben, dass dein Bruder weiterhin eine wichtige Rolle in der britischen Regierung spielen wird« fuhr Maupertuis fort. »Aber das wird er nicht. Ebenso wie der Rest seiner Kollegen wird er von der Flutwelle der Geschichte hinweggeschwemmt werden. Wenn euer aufgeblasenes kleines Land zur bloßen Provinz einer europäischen Supermacht geworden ist, die es in Größe und Macht mit Amerika aufnehmen kann, sind Mycroft und seinesgleichen überflüssig. Ihre Sorte Mensch wird in der neuen Weltordnung nicht mehr benötigt. Sie werden der Guillotine oder Garotte anheim gegeben und nicht überleben.«
Maupertuis’ Stimme war mittlerweile zu einem leisen Fauchen geworden, so sehr hatte er sich in seine Gifttirade auf ein Land und ein Volk hineingesteigert, die er abgrundtief verabscheute. Warum hasste er Großbritannien so sehr? Sherlock fragte sich unversehens, welche Taktik wohl am vielversprechendsten sein würde. Sollte er weiterhin eher auf ein rationales Streitgespräch setzen oder den Baron so provozieren, dass dieser sein emotionales Gleichgewicht verlor?
Wie er sich auch entschied, der Ausgang war ungewiss, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie beide sterben.
»Er ist verrückt«, sagte Virginia plötzlich mit leiser, aber fester Stimme zu Sherlock. »Völlig verrückt. Es sieht doch jeder, dass sein Plan irre und sein Wunschziel unmöglich ist. Ob es ihm nun gefällt oder nicht: Großbritannien ist eine Weltmacht. Und das kann er nicht rückgängig machen.«
»Ich bin erstaunt«, fauchte der Baron, »dass du dieses Land so energisch verteidigst, Mädchen.«
Überrascht, dass der Baron sie plötzlich mit einbezog, blickte Virginia auf. »Erstaunt? Warum?«, fragte sie. »Ich mag es nun mal nicht, wenn unschuldige Menschen getötet werden. Ist das so ungewöhnlich?«
»Dein Amerika hat über zweihundert Jahre lang zu diesem Land gehört«, hob der Baron hervor. »Dort wurde alles von London aus geregelt. Ihr wart einfach nur so etwas wie eine weitere Grafschaft. So wie Hampshire oder Dorset, bloß größer und weiter weg. Ihr musstet erst gegen die britische Herrschaft rebellieren, um das Joch von Westminster abzuschütteln.«
»Und das haben wir in einem sauberen Kampf getan«, stellte sie klar. »Nicht mit Hilfe von irgendwelchen Tricks, Verschwörungen oder Geheimplänen. Wenn es schon Kriege geben muss, dann sollten sie so sein: fair, offen und sauber. Es sollte Regeln geben für den Krieg. Genauso wie fürs Boxen.«
»Wie naiv«, murmelte der Baron. »Wie überaus naiv. Und so sinnlos. Leider werdet ihr es nicht mehr erleben, wie eure wertvolle Weltordnung einstürzt. Denn vorher werdet ihr beide sterben.«
»Sie wirken gerne im Dunkeln, nicht wahr?«, sagte sie. Der harte Ton in ihrer Stimme hatte Sherlocks Aufmerksamkeit erregt. Er warf einen Blick auf Virginia und fragte sich, was sie im Schilde führte.
»Der erfolgreiche Kämpfer schlägt aus der Dunkelheit zu und begibt sich danach wieder in ihren Schutz, so dass der größere und stärkere Feind nicht weiß, wo er zuschlagen soll«, flüsterte der Baron. »So sieht die Kriegführung der Zukunft aus. So kann ein kleinerer Gegner seinen viel größeren Feind bezwingen. Durch List.«
»Sie ziehen die Dunkelheit vor? Dann sehen wir doch mal, was Sie vom Sonnenlicht halten«, schrie Virginia und sprang auf die Beine. Sherlock spürte, wie jemand im dunklen Bereich des Raumes in hektische Aktivität verfiel. Offensichtlich MrSurd, der sich anschickte, seine mit einer Metallspitze versehene Peitsche zum Einsatz zu bringen. Aber Virginia huschte rasch zur Seite, bevor sich die Peitschenzunge in die Rückenlehne des Stuhles fraß, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Sie packte die schwarzen Samtvorhänge, die die eine Raumseite säumten, und zog mit aller Kraft daran. Sherlock hörte Stoff reißen und dann – mit einem Geräusch, das an ferne Regenschauer erinnerte – kam in einer langsamen weichen Stofflawine eine komplette Vorhangbahn herunter. Grelles Sonnenlicht flutete einen Teil des Raumes.
Schwarz gekleidete und maskierte Gestalten, die um sie herum postiert waren, bedeckten schützend ihre Augen. Aber Sherlocks Blick war auf die Gestalt des Barons gerichtet, der in einem überdimensionalen Stuhl am anderen Tischende saß. Es war tatsächlich derselbe weißhaarige Mann mit den rosafarbenen Augen, den er in der Kutsche in Farnham gesehen hatte. Er blinzelte ins Licht und bedeckte dann mit einer Hand sein Gesicht, während er sich mit der anderen eine Brille mit dunklen Linsen aufsetzte, um die empfindlichen Augen zu schützen.
Seine dünnen Arme waren irgendwie verbogen und sahen aus wie die bizarr gekrümmten Äste einer uralten Eiche. Sein Kopf hing kraftlos auf eine Schulter herab. Gekleidet war er in eine Art Militäruniform, deren schwarzer Stoff auf Brust und Ärmelaufschlägen mit goldenen Litzen verziert war. Um seine Stirn herum zog sich ein merkwürdiger Gegenstand, der wie ein Holzrahmen aussah. Plötzlich richtete sich sein Kopf auf, und unter den dunklen Linsen hervor glühten ihn seine Augen so durchdringend an, dass Sherlock fast ihre Hitze zu spüren meinte. Ihm fiel auf, dass Leinen vom Rahmen aus in die Höhe führten und dass diese genau in dem Moment straff gezogen worden waren, als Maupertuis’ Kopf sich aufgerichtet hatte.
MrSurd stand neben dem Baron. Das grelle Licht der Sonne brachte seine Narben so zum Leuchten, dass sie förmlich lebendig zu werden schienen und aussahen wie ein Haufen Würmer, die auf einem Totenschädel wimmelten. Mit einem Blick, der Tod und Verderben versprach, fixierte er Sherlock und Virginia und holte mit der Peitsche aus.
»Nein!«, zischte der Baron. »Sie gehören mir !«
Fast wie unter Zwang wanderte Sherlocks Blick nun wieder zum verdrehten Körper des Barons zurück. Er nahm weitere Seile wahr, die an kleineren, an Handgelenken und Ellenbogen montierten Holzrahmen befestigt waren, sowie einen größeren Holzrahmen, der seine Brust umschloss. Dickere Seile führten von diesem Brustrahmen in die Höhe. Als Sherlock ihnen mit den Augen zur Decke folgte, erkannte er, dass alle Seile an einem großen Balken befestigt waren, was wie ein über dem Baron schwebender Galgen aussah. An dem Sherlock zugewandten Balkenende war im rechten Winkel ein kleinerer Querbalken angebracht, der mit Metallhaken und auf winzigen Achsen gelagerten Rädchen übersät war.
Die Seile liefen durch die Haken und über die Rädchen wieder nach unten. Sherlock folgte ihnen mit dem Blick weiter nach hinten, wo maskierte, schwarz gekleidete Diener die Seilenden in Händen hielten. Es mussten gut zwanzig, vielleicht sogar an die dreißig Seile sein, die alle mit bestimmten Körperteilen des Barons verbunden waren. Und als Sherlock noch ungläubig auf die Szenerie starrte, setzten sich einige der Diener in Bewegung und zogen mit aller Kraft an ihren Seilen, wohingegen andere wiederum mit ihren Seilen nachgaben oder sie nur einfach lose in der Hand hielten, ohne daran zu ziehen. Und während sie das taten, richtete der Baron sich ruckartig auf.
Er war eine Marionette! Eine menschliche Marionette, die ausschließlich von anderen bewegt wurde.
»Ziemlich grotesk, was?«, zischte der Baron. Mund und Augen schienen die einzigen Körperteile zu sein, die er noch selbständig bewegen konnte. Seine rechte Hand hob sich und wies auf seinen Körper. Doch die Bewegung wurde von einer Reihe von Seilen erzeugt, die an Handgelenk, Ellenbogen und Schulter befestigt waren, sowie von feineren Schnüren, die man an Fingerringen fixiert hatte. Alle diese Körperteile bewegten sich nicht, weil der Baron sie kraft seines Willens dazu brachte, sondern weil seine schwarz gekleideten Diener vorhersahen, welche Bewegung er machen würde, wenn er könnte.
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