»Mein Name ist MrSurd«, sagte er, als die beiden Diener und er Sherlock auf dem Korridor folgten. »Ich bin persönlicher Diener und Faktotum des Barons. Was immer er auch verlangt, ich erledige es. Will er ein Glas Madeira, gehört es zu meinen Aufgaben, ihm eines einzuschenken. Will er deinen Kopf auf einem Tablett, ist es meine Pflicht, ihn abzuschneiden und zu servieren. Kein Vergnügen, keine ehrenvolle Aufgabe. Einfach nur ein Job. Verstehst du mich?«
»Ich verstehe«, sagte Sherlock. »Sie waren das mit der Peitsche, als ich das letzte Mal beim Baron war, oder? Sie haben da im Dunkeln gestanden.«
»Nur ein Job«, wiederholte der Narbenmann. »Aber ein gut gemachter Job erfüllt mich mit großer Befriedigung.«
Der obere Korridor und die Treppe, die hinunter in die Haupthalle führte, sahen genauso aus, wie er sie von dem Anwesen in Farnham her noch in Erinnerung hatte. Unversehens ertappte Sherlock sich dabei, wie er nach den Hufspuren suchte, die Matty und er bei ihrer Flucht hinterlassen haben mussten. Doch halt, nein. Dies war nicht dasselbe Haus, sondern ein anderes. Eines, das einfach nur so aussah wie das in Farnham.
Virginia stand neben einem großen Teakschrank in der Halle. Direkt vor dem Raum, in dem, wie Sherlock sich erinnerte, Baron Maupertuis auf sie warten würde. Bewacht wurde sie von zwei maskierten Dienern, die sich neben ihr postiert hatten.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Nur ein paar seltsame Träume«, erwiderte sie. »Ich bin auf Sandia geritten, aber er war so wild, dass ich ihn beim besten Willen nicht kontrollieren konnte. Wir sind einfach weiter und weiter durch eine komische Landschaft geritten, die immer in dem Augenblick zerflossen ist, in dem ich einen Blick darauf geworfen habe.« Sie schüttelte sich, um die unangenehme Erinnerung loszuwerden. »Und was ist mit dir?«
»Schlangen«, sagte er nur.
»Was war das für ein Zeugs, mit dem sie uns betäubt haben? Mein Kopf fühlt sich immer noch ganz benebelt an.«
»Ich glaube, es war Laudanum, in Alkohol gelöstes Opium. Meine Mutter und mein Vater haben es auf Anordnung des Arztes immer meiner kranken Schwester verabreicht. Ich erkenne den Geruch wieder. Es wird aus Mohn gemacht.«
»Mohn?« Sie lachte. »Den hab ich noch nie gemocht. Das sind ganz gruselige Blumen.«
MrSurd schob sich an ihnen vorbei und öffnete die Tür zu dem Raum, in dem der Baron auf sie wartete. Mit einer Geste forderte er sie auf einzutreten.
Wie bei ihrer letzten Begegnung lag der Raum im Dunkeln. Am Kopfende eines riesigen Tisches waren zwei Stühle platziert worden. Das andere Ende des Tisches lag im Schatten verborgen. Schwere schwarze Vorhänge verhüllten die Fenster und verhinderten, dass Sonnenlicht ins Zimmer drang. Die wenigen Wandbereiche, die Sherlock erkennen konnte, waren mit Schwertern und Schildern bedeckt. Und an einer Stelle war sogar eine vollständige Ritterrüstung aufgestellt worden, die so arrangiert war, dass der in der Rüstung steckende imaginäre Ritter ein Schwert in der Hand hielt.
MrSurd bedeutete ihnen, sich zu setzen. Sherlock spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern. Aber dann nahm er etwas in MrSurds Blick wahr. Etwas, das ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass der Diener genau dies nicht nur von ihm erwartete, sondern sich sogar regelrecht wünschte, um Sherlock eine schmerzhafte Lektion erteilen und ein für alle Mal sicherstellen zu können, dass er gehorchte.
Also setzte sich Sherlock lieber, während Virginia neben ihm Platz nahm.
MrSurd und die vier Diener gingen zum anderen Ende des Raumes und verschwanden in der Dunkelheit.
Eine Weile war es still im Zimmer. Abgesehen von einem feinen Knarren und Knarzen, Geräuschen, wie sie unter Spannung stehende Taue und Holz von sich geben und die Sherlock schon beim letzten Mal aufgefallen waren.
Dann erklang eine flüsternde Stimme, die sich wie trockene Blätter anhörte, die im Wind raschelten. »Du beharrst darauf, meine Pläne zu durchkreuzen, und dabei bist du doch nur ein Kind. Wegen dir war ich gezwungen, eines meiner Anwesen aufzugeben.«
»Sie scheinen es zu lieben, wenn ihre Häuser identisch konstruiert und eingerichtet sind«, sagte Sherlock. »Warum? Ziehen Sie es vor, dass die Dinge alle gleich aussehen?«
Eine Weile herrschte Stille, und jeden Augenblick erwartete Sherlock, zu spüren zu bekommen, wie sich die aus der Dunkelheit schnellende Peitschenspitze in sein Fleisch schnitt.
Aber stattdessen antwortete die Stimme.
»Wenn ich einmal etwas gefunden habe, das ich mag«, sagte sie, »sehe ich keinen Grund darin, etwas anderes zu ertragen. Ob nun der Grundriss und die Einrichtung eines Hauses oder ein Regierungssystem … Sobald ich etwas gefunden habe, das funktioniert, will ich es duplizieren, damit die Dinge absolut identisch sind, wo immer ich auch bin. Ich finde das … irgendwie tröstlich.«
»Und deswegen kleiden Sie ihre Diener auch in schwarze Masken. So können Sie sich der Illusion hingeben, dass Sie – egal, wo Sie sich gerade aufhalten – stets von denselben Leuten umgeben sind.«
»Sehr scharfsinnig.«
»Und wir befinden uns gerade wo … in Frankreich?«
»Du hast die Landschaft erkannt? Ja, dieses Haus liegt in Frankreich. Während man euch auf dem Schiff und dann in der Kutsche hierhergebracht hat, wurdet ihr die ganze Zeit über betäubt gehalten.«
»Aber was ist mit MrSurd?«, fragte Sherlock. »Von ihm gibt’s nur einen.«
»MrSurd ist unersetzlich. Wohin ich gehe, geht auch er hin.«
»Sie sind Baron Maupertuis, nicht wahr?«
»Du überraschst mich schon wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Name weithin bekannt ist.«
»Ich … hab das anhand von Anhaltspunkten kombiniert.«
»Sehr clever. Wirklich sehr clever. Mein Kompliment für deine Kombinationsgabe. Und was hast du dir sonst noch so zusammenkombiniert?«
Virginia legte warnend eine Hand auf die seine. Aber Sherlock spürte plötzlich Stolz in sich aufkeimen – Stolz auf die Nachforschungen, die er unternommen hatte, auf die Sachverhalte, die er aufgedeckt hatte, und darauf, dass sich die Einzelteile der Verschwörung in seinem Kopf allmählich zu einem Bild zusammenzufügen begannen. Und außerdem, so sagte er sich, war es wichtig, dass Maupertuis erfuhr, dass seine Pläne nicht mehr länger geheim waren. »Ich weiß, dass Sie Bienen gehalten haben, und ich weiß, dass es sich um eine ausländische Spezies handelt, die aggressiver ist als jede europäische Bienenart. Das bedeutet, Sie halten die Tiere nicht, um Honig zu produzieren, sondern um ihrer Stachel willen. Sie wollen, dass sie Menschen verletzen oder töten.« Sein Hirn arbeitete jetzt auf Hochtouren und jonglierte fieberhaft mit diversen Fakten herum, um auf Muster zu stoßen, die er zuvor kaum für möglich gehalten hatte. Amyus Crowes Absicht war es gewesen, ihn zu unterrichten, ihn zu trainieren. Baron Maupertuis aber nahm ihn tatsächlich ernst … oder besser gesagt, betrachtete ihn als ernsten Gegner. Er hörte sich Sherlocks Schlussfolgerungen an, als hätten sie wirklich eine Bedeutung. Als wären es nicht bloß Antworten theoretischer Natur, die sich auf künstlich konstruierte Problemstellungen bezogen, in denen Hasen und Füchse involviert waren.
»Sie haben auch eine Fabrik betrieben, um Kleidung zu produzieren … Armeeuniformen, glaube ich.« Er hielt eine Sekunde inne. Da war etwas, das er mit seinen Gedanken noch nicht ganz greifen konnte, ein bedeutsames logisches Ziel, auf das alles hinauslief und dessen Elemente er bereits alle kannte. Mit Ausnahme des letzten, das einen eher intuitiven Sprung erforderte. »Einer ihrer Männer, ich glaube Wint war sein Name, hat ein paar Kleidungsstücke gestohlen und sie in seinem Haus gelagert. Er wurde von Bienen attackiert. Ein anderer Mann, der auf dem Anwesen meines Onkels als Gärtner arbeitete, hat zuvor in Farnham Kleidung hergestellt – für Sie, vermute ich mal. Auch er wurde von Bienen getötet. Hat er vielleicht ein paar der Kleidungsstücke für eigene Zwecke abgezweigt, Sie also sozusagen bestohlen?« Der mentale Nebel, der die letzte entscheidende logische Schlussfolgerung bisher noch vor ihm verhüllt hatte, begann sich nun zu lichten, und triumphierend fuhr er fort: »Also ist etwas in der Kleidung, das die Bienen dazu bringt anzugreifen. Sind die Kleidungsstücke in Kisten verpackt, passiert nichts. Aber wenn die Leute sie anziehen … werden die Bienen angelockt und stechen auf alle ein, die diese Kleidung tragen. Egal, um wen es sich handelt.«
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