Mit dem Gefühl, dass eine Menge Zeit verstrichen war, erwachte Sherlock endlich. Mund und Hals fühlten sich staubtrocken an, und als er mit der Zunge über den Gaumen fuhr, blieb sie zunächst daran haften. Außerdem war er am Verhungern.
Nach einer Weile fühlte er sich stark genug, um sich aufzusetzen, ohne dass ihm übel wurde. Und was er sah, ließ ihn vorübergehend Durst, Hunger und Übelkeit vergessen.
Er lag in einem Himmelbett, über das sich ein kunstvoll bestickter Baldachin wölbte. Sein Kopf ruhte auf weichen Daunenkissen und der Raum war mit dunklem Eichenholz getäfelt.
Erlesene, mit detailreichen Motiven verzierte Teppiche bedeckten die glänzend lackierten Bodendielen.
Es war derselbe Raum, in dem er aufgewacht war, nachdem man ihn im Boxring k.o. geschlagen hatte, auf dem Jahrmarkt am Rand von Farnham.
Aber wie war das möglich? Baron Maupertuis hatte das Anwesen doch aufgegeben und es völlig leer zurückgelassen. Er konnte doch unmöglich so rasch zurückgekehrt sein? Und warum sollte er so was tun?
Sherlock rollte sich vom Bett herunter und stellte sich aufrecht hin. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und war überrascht, als er um Mund und Nase herum auf irgendetwas Trockenes stieß. Er rieb daran, zog etwas davon von seiner Haut ab und betrachtete seine Finger. Sie waren mit Fäden einer schwarzen Substanz bedeckt. Er rieb die Finger aneinander und stellte verwundert fest, dass die Fäden leicht klebrig waren.
Er erinnerte sich an den Stoffballen, der ihm auf den Mund gepresst worden war. Eine Chemikalie? Eine Droge, um ihn zu betäuben? Das war nicht unwahrscheinlich.
Und Virginia? Der plötzlich in ihm aufbrodelnde Zorn spülte die letzten Reste von Schlaf und Übelkeit aus seinem Körper. Was war mit Virginia passiert? Sollte jemand ihr etwas angetan haben, dann würde er ihn …
Was würde er? Ihn umbringen? Er war momentan nicht gerade in der Lage, so etwas zu tun.
Er musste Informationen sammeln. Herausfinden, was hier vor sich ging, und warum. Erst dann würde er etwas unternehmen können.
Sherlock ging zu den geschlossenen Vorhängen hinüber und zog sie zurück. Er hatte erwartet, auf trockene rote Erde und Hunderte von Bienenstöcken zu blicken. So wie beim letzten Mal, als er in diesem Raum gewesen war. Aber was er nun sah, ließ ihn überrascht zurücktaumeln.
In kurzer Entfernung zum Haus zog sich ein Strand aus grauem Sand entlang und dahinter erstreckte sich bis zum fernen Horizont eine Fläche aus rollenden, schaumgekrönten Wogen. Der Himmel war strahlend blau. Und irgendwo in der Ferne konnte Sherlock mehrere Segel erkennen.
Er schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. Halluzinierte er gerade? Durchaus möglich, vermutete er. Aber der Traum von der Schlange und dem sirupartigen Wasser hatte etwas Bizarres und Unlogisches in der Wahrnehmung gehabt. Etwas, das – im Nachhinein betrachtet – bewirkt hatte, dass ihm irgendwie klar gewesen war, dass er träumte. Wohingegen das da draußen klar erkennbar war und irgendwie echt aussah.
War das Bild, das sich ihm draußen vor dem Fenster bot, etwa genau das? Ein perfekt ausgeführtes Gemälde, das einem den Eindruck vermittelte, es mit realem Strand, Meer und Sonne zu tun zu haben, während es sich tatsächlich nur um Farbpigmente auf einer Leinwand oder einer Tafel handelte? Er öffnete wieder die Augen und sah noch einmal genauer hin.
In weiter Entfernung waren kleine, weiße w-förmige Umrisse zu erkennen, die über den Wellen kreisten, sich also bewegten, während er sie beobachtete. Seevögel, die sich im Aufwind treiben ließen. So etwas konnte man nicht in einem Bild vortäuschen. Was auch immer sich da draußen befand, war real.
Und da es in der Nähe von Farnham keinen Ozean gab, lag die logische Schlussfolgerung nahe, dass er sich nicht mehr in der Nähe von Farnham befand. Und vermutlich noch nicht einmal mehr in England. Der Kaimeister hatte erzählt, dass das Schiff Frankreich ansteuern würde. Das würde auch die merkwürdige Felsküste erklären.
Aber was war mit dem Raum? Das war vermutlich ganz simpel durch die Tatsache zu erklären, dass Baron Maupertuis ein Gewohnheitstier war und, wo immer er sich auch aufhielt, es zu schätzen wusste, wenn seine Umgebung stets so vertraut wie möglich war. Gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Anwesen außerhalb von Farnham nicht um seinen Familiensitz handelte, so hatte er es vermutlich so umgebaut und umgestaltet, dass es dem glich, was er als sein Zuhause bezeichnete – wo immer es auch sein mochte. Wobei es sich dabei durchaus um dieses französische – wie sagte man hier doch gleich … Château ? – handeln konnte, in dem er sich gerade aufhielt.
Ein seltsames Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte ihn. Er war einer Sache auf die Spur gekommen, die von seinen Widersachern seiner Vermutung nach eigentlich dafür vorgesehen war, ihn zu verwirren und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als dann das Türschloss hinter ihm klickte und die Tür nach innen aufschwang, drehte er sich nicht einmal um. Er wusste bereits, was er dort zu sehen bekäme: zwei Diener in schwarzen Kniebundhosen, schwarzen Beinlingen, schwarzen Westen und kurzen schwarzen Jacken. Mit schwarzen Samtmasken im Gesicht. Genau wie beim letzten Mal. Er zählte im Kopf bis zehn und drehte sich um. Er hatte recht. Jedenfalls zum Teil. Die beiden Diener, die links und rechts in der Tür standen, waren genauso angezogen, wie er sich erinnerte. Allerdings stand noch ein dritter Mann in der Mitte des Türrahmens. Genauer gesagt, war er so riesig, dass er diesen fast vollständig ausfüllte. Seine Arme waren so dick wie die Beine eines normalen Mannes, während seine eigenen Beine den Umfang von Baumstämmen aufwiesen. Seine Hände glichen in Größe und Gestalt großen Schaufelblättern. Aber das, womit er in erster Linie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war sein Kopf. Er war kahlgeschoren, doch seine Kopfhaut war so dicht von gewundenen braunen Narben überzogen, dass es auf den ersten Blick aussah, als hätte er einen üppigen Haarschopf auf dem Kopf. Über einem schlabberig sitzenden grauen Anzug trug er einen langen braunen Ledermantel, dessen weiter Schnitt und schiere Masse ihn sogar noch größer wirken ließen.
»Der Baron will dich sehen«, sagte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als würden zwei Millionen Mahlsteine aufeinanderreiben.
»Und was ist, wenn ich den Baron nicht sehen will?«, erwiderte Sherlock ruhig. Die beiden Diener tauschten Blicke aus, aber der Narbenmann schüttelte nur leicht den Kopf. »Was der Baron will, kriegt er auch. Etwas anderes gibt es nicht.«
»Was ist, wenn ich mich weigere, mit euch zu gehen?«
»Dann packen wir dich am Kragen und tragen dich.«
Sherlock wusste, dass er sich kindisch benahm. Aber seine Widersacher sollten begreifen, dass er nicht einfach nur ein willenloses und passives Opfer war.
»Was, wenn ich mich am Türrahmen festkralle und mich weigere loszulassen?«
»Dann brechen wir dir die Finger und nehmen dich trotzdem mit.«
Der Mann lächelte, aber in seinem Ausdruck lag keine Spur von Heiterkeit. Es war lediglich ein bloßes Zurschaustellen seiner Zähne. Wie ein Tiger, der sich bereit zum Sprung auf sein Opfer machte. »Der Baron braucht von dir nur das, was übrig bleiben muss, um Fragen zu beantworten. Mehr nicht. Das bedeutet also deinen Kopf, damit dein Hirn denken und dein Mund sich bewegen kann, und deinen Brustkorb, damit deine Lungen atmen und dich am Leben halten können. Alles andere ist optional. Deine Wahl.«
Sherlock wartete noch einen Augenblick, nur um zu demonstrieren, dass er sich darüber bewusst war, eine Wahlmöglichkeit zu haben und diese auch in Anspruch nahm. Dann bewegte er sich auf die Tür zu. Der Narbenmann rührte sich nicht von der Stelle, bis Sherlock kurz davor war, in ihn hineinzulaufen. Erst dann drehte er sich etwas zur Seite. Doch gerade nur so viel, dass Sherlock durch die Tür kam.
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