Sie starrte ihn verwundert an. »In einem anderen Boot natürlich. Ich hab dem Bootsführer einfach gesagt, dass er euch folgen soll. Er ist mir zuerst etwas dumm gekommen, aber ich hatte Geld dabei, das Vater mir gegeben hat, und da hat er sich wieder eingekriegt. Während du das Lagerhaus beobachtet hast, habe ich dich beobachtet. Dann hab ich mitbekommen, wie einige Männer aus einer kleinen Seitentür im Lagerhaus geschlichen sind, während ihr alle anscheinend nichts mitbekommen und euch nicht vom Fleck gerührt habt. Also bin ich ihnen dann bis hierher gefolgt. Hätte sie übrigens fast noch verloren, als sie in eine Droschke gestiegen sind, aber zum Glück hab ich auch gleich eine erwischt.«
»Ich habe nichts von dir gesehen«, wandte Sherlock lahm ein.
»Dad hat mir all seine Fährtensuchertricks beigebracht«, erwiderte sie stolz. »Wenn ich dich verfolge, ist ›nichts‹ genau das, was du sehen sollst.« Sie schwieg. Dann beugte sie sich vor und berührte kurz seinen Arm.
»Was du getan hast, war unglaublich gefährlich«, meinte Sherlock. »Aber ich bin froh, dich zu sehen.«
Sie zuckte die Achseln. »Es war jedenfalls besser, als im Hotel auf eure Rückkehr zu warten.«
»Aber warum bist du ausgerechnet denen gefolgt? Und nicht zu deinem Vater gegangen, um ihm zu erzählen, was passiert ist?«
»Einfach darum eben«, sagte sie nur und fügte dann kleinlaut hinzu: »Na ja, eigentlich weil ich seine Spur verloren hatte.«
»Aber ein Mädchen … allein … im Londoner East End …« Er brach ab, unsicher, wie er den Satz zu Ende bringen sollte. »Hier laufen ein paar ziemlich üble Kerle rum …«, fing er schließlich wieder an. Und dann erzählte er, was ihm an diesem Nachmittag alles passiert war, und berichtete auch von dem erstochenen Mann und dem Brand in den Tunneln.
Es war eine große Erleichterung, darüber zu sprechen. Aber gleichzeitig war sich Sherlock darüber im Klaren, dass er in tödlicher Gefahr geschwebt hatte und er immer noch nicht wusste warum.
»Wir können nicht zulassen, dass sie damit durchkommen«, sagte Virginia, als er zu Ende erzählt hatte. »Du bist nur ein Kind. Die hätten dich umbringen können.«
»Du bist auch nur ein Kind«, protestierte Sherlock lahm.
Virginia lächelte. »So hab ich’s nicht gemeint«, erwiderte sie. »Was ich sagen wollte, ist, dass wir eigentlich nicht in so etwas hineingezogen werden sollten.«
»Aber das sind wir nun mal«, unterstrich Sherlock. »Und was immer da auch vor sich geht: Wir müssen es verhindern.«
»Okay, ich bin bereit. Ich hab was gefunden, um mich perfekt als Junge zu verkleiden«, sagte Virginia stolz und zog eine Kopfbedeckung unter der Stelle hervor, wo sie gerade hockte. Es handelte sich um eine Schirmmütze aus Stoff. Sie hielt mit einer Hand die Haare hinter dem Kopf zusammen und ließ mit der anderen die Mütze darübergleiten. Mit den verborgenen Haaren und der zugeknöpften Jacke könnte sie tatsächlich gut als Junge durchgehen, fand Sherlock. Und natürlich hatte sie ja außerdem noch ihre Reithosen an. Mädchen hingegen trugen Kleider, keine Reithosen. Niemand, der sie nicht kannte, würde den geringsten Anlass haben, misstrauisch zu werden.
»Da wir nun schon mal zusammen hier sind«, sagte Sherlock, »sollten wir die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wohin dieses Schiff fährt.« Er hielt nach dem Mann Ausschau, den er zuvor gesehen hatte. Dem Mann mit den Papierblättern auf dem Klemmbrett. »Ich glaube, der Mann da drüben ist der Lade- oder Kaimeister oder so was. Den können wir fragen.«
»Einfach so?«
»Dein Vater hat mir ein paar gute Tipps beigebracht, wie man Fragen stellt.«
Sherlock blickte sich um und wartete, bis niemand in ihre Richtung sah. Dann führte er Virginia aus ihrem Versteck und schlenderte mit ihr zusammen auf dem Kai entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo sie sich auf die Steinmauer setzten, die das Themseufer säumte. Er verspürte ein Prickeln im Nacken, normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass er beobachtet wurde. Aber er zwang sich dazu, das Gefühl zu ignorieren. Denny war mittlerweile vermutlich bei einem Doktor oder Wundarzt, vorausgesetzt, dass sein Kiefer wirklich gebrochen war. Und was die anderen Männer anbelangte, so standen die Chancen ziemlich gut, dass sie gar nicht einen so genauen Blick auf ihn hatten werfen können. Jedenfalls nicht so genau, dass sie in der Lage gewesen wären, ihn von anderen Kindern zu unterscheiden. Vor allem jetzt, da er über und über mit Dreck, Ruß, Rattenhaaren und allen möglichen anderen Dingen bedeckt war, die er sich lieber nicht genauer ausmalen wollte. Sie saßen eine gute halbe Stunde lang auf der Mauer, plauderten zwanglos über dieses und jenes und wurden allmählich zu einem Teil der Umgebung. Schließlich hatte der Lade- oder Kaimeister, oder was auch immer er war, seine Arbeit am Schiff erledigt und schickte sich an, in ihre Richtung zurückzugehen. Als er an ihnen vorbeikam, blickte Sherlock auf und sagte: »Hey, Boss. Gibt’s hier im Hafen Chance auf Arbeit?«
Der Mann musterte geringschätzig Sherlocks hagere Gestalt. »Komm in fünf Jahren wieder, Sohn«, sagte er in nicht ganz unfreundlichem Ton. »Sieh zu, dass du ein paar Muskeln auf dein dürres Gerippe kriegst.«
»Aber ich muss aus London verschwinden«, flehte Sherlock eindringlich. »Ich kann hart arbeiten. Ehrlich. Kann ich wirklich.«
Er zeigte auf das Schiff in der Nähe. »Was ist denn mit denen? Die sehen aus, als hätten se zu wenig Leute.«
»Haben sie«, bestätigte der Mann. »Heute Nachmittag sind drei zu wenig gekommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du für einen von denen einspringen kannst. Und außerdem: Der Kahn wird dich nicht sehr weit aus London fortbringen.«
»Warum nicht?«, fragte Sherlock.
»Der segelt nur nach Frankreich und dann gleich wieder zurück. Kein Landgang für die Crew.« Er lachte. »Wenn du dich für ’ne Weile verkrümeln möchtest, tret’ doch in die Navy ein. Oder häng hier einfach lange genug rum, bis eins ihrer Presskommandos kommt und dich fortschleppt.«
Immer noch lachend zog er davon.
»Frankreich«, sagte Sherlock fasziniert. »Interessant.«
»Wie ich höre, wollt ihr euch unserer Crew anschließen«, rief eine Stimme vom Bug des Schiffes aus. Sherlock verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte in eine andere Richtung. Aber die Stimme sprach weiter: »Warum kommst du mit dem Mädchen nicht einfach an Bord? Ja, wir wissen nämlich, dass es ein Mädchen ist. Haben euch beobachtet, seit ihr hier aufgetaucht seid. Was denn? Habt ihr etwa gedacht, ihr wäret unsichtbar?«
Sherlock blickte den Kai entlang zu der Stelle, wo der Lademeister stehengeblieben war und zu ihnen zurückblickte. Sein Gesichtsausdruck war mitleidig, aber entschlossen. Von ihm war keinerlei Hilfe zu erwarten.
Sherlock glitt von der Mauer, nahm Virginias Hand und half ihr herunter. »Zeit zu gehen«, sagte er. Aber als er sich umdrehte, sah er sich unversehens einem Halbkreis von Seeleuten und Hafenarbeitern gegenüber, die wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.
Virginia mit sich ziehend, versuchte er wegzurennen. Aber schwere Hände packten ihn und zerrten ihn von ihr fort. Er stolperte, die Hände hielten ihn jedoch mit eisernem Griff auf den Beinen. Er sah, dass auch Virginia stolperte. Doch im nächsten Augenblick nahm er nur noch eine Hand wahr, die mit einem zusammengeknüllten Stoffballen in der Innenfläche auf ihn zugeschossen kam und sich auf sein Gesicht presste. Ein schwerer, bitterer Medizingeruch drang ihm in die Nase. Dann stürzte er plötzlich in ein bodenloses Loch, das exakt die Farbe von Virginias Augen hatte. Ein abgrundtiefer Schlaf und entsetzliche Träume warteten auf ihn.
In seinen Träumen kämpfte Sherlock mit einer riesigen Schlange. Ihr Körper war so dick wie ein Bierfass und bestand, soweit er es sehen konnte, nur aus Muskeln und Rippen. Ihr Kopf sah aus wie ein flaches Dreieck mit zwei sägeartigen Zähnen an den Seiten. Sie kämpften irgendwo im Wasser, aber in seinem Traum war das Wasser so dick und schwarz wie Rübensirup. Die Schlange ringelte sich langsam um seinen Körper und zog sich zusammen, um seine Rippen zu brechen. Aber das zähflüssige Wasser erschwerte ihre Bewegungen, und Sherlock war in der Lage, den um ihn gewundenen Körper auseinanderzudrücken, indem er sich mit Armen und Beinen fest dagegenstemmte. Doch als er dann zu fliehen versuchte, wurden seine Schwimmbewegungen von dem zähflüssigen Wasser so grotesk verlangsamt, dass die Schlange erneut ihren Körper um ihn schlängeln und langsam wieder zudrücken konnte. Und so ging es immer weiter: Verstrickt in einem endlosen Kampf, versuchte Sherlock unaufhörlich der Schlange zu entkommen, während diese beharrlich bestrebt war, ihn zu umklammern.
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