»Ich glaube, du hast mir jetzt alles gesagt, was du weißt«, fuhr Maupertuis fort, »und ich bin überrascht, wie viel du herausgefunden hast. Offensichtlich müssen wir in Zukunft noch diskreter vorgehen. Danke, zumindest dafür.«
»Aber warum London?«, fragte Sherlock rasch. Er spürte, dass die Dinge dem Ende zustrebten und man ihnen in Kürze das Leben nehmen würde. »Warum haben Sie die Bienenstöcke nicht gleich nach Portsmouth oder Southampton, sondern erst nach London transportieren lassen, bevor man sie hierher verfrachtete?«
»Deine Flucht hat uns früher zum Handeln gezwungen als geplant«, flüsterte der Baron. »In Portsmouth und Southampton waren keine Liegeplätze frei, und unser Schiff hat in London auf den Befehl zum Auslaufen gewartet. Es war im Grunde ineffizient, die Bienenstöcke nach London zu bringen, aber leider unvermeidlich. Und damit hat sich nun deine Nützlichkeit für mich erschöpft … deine und die des Mädchens, das neben dir sitzt. Ich wollte eigentlich drohen, sie umzubringen, um dich zum Reden zu zwingen. Aber Zwang war gar nicht erforderlich. Wenn es überhaupt ein Problem gab, dann bestand es darin, dich dazu zu bewegen, die Klappe zu halten.«
Gedemütigt blickte Sherlock Virginia an und spürte, wie er rot wurde. Aber Virginia lächelte ihn nur an. »Du hast verhindert, dass sie mir wehtun«, flüsterte sie. »Danke.«
»Keine Ursache«, antwortete Sherlock automatisch, ohne sich wirklich sicher zu sein, ob er sich das nun wirklich als Verdienst anrechnen sollte.
»MrSurd«, hörten sie Baron Maupertuis’ Stimme aus der Dunkelheit, und obwohl er flüsterte, drang seine befehlsgewohnte Stimme in jeden Winkel des Raumes.
»Wir müssen unsere Pläne beschleunigen. Erteilen Sie die Befehle. Begeben Sie sich zum Fort und lassen Sie die Bienen frei. Wenn sie die britische Hauptinsel erreicht und sich über das Land verteilt haben, werden die Uniformen schon ausgeteilt sein. Und dann werden Chaos und Verwirrung herrschen!«
Die Worte des Barons hallten kalt von den Wänden wider. Vor ihnen im Dunkeln war geschäftiges Geraschel zu hören, während ein Diener mit den Befehlen den Raum verließ. Sherlock warf einen Blick auf Virginia. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihr Mund hatte sich zu einer entschlossenen Linie verhärtet. Er drückte ihre Hand, woraufhin Virginia ihm ein mattes Lächeln schenkte.
Ihr unbeugsamer Geist machte Sherlock Mut weiterzumachen.
»Ein grandioser Plan«, sagte er in die Dunkelheit gewandt. »Nur wird er nicht funktionieren.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Lediglich unterbrochen von den merkwürdigen knarzenden und knarrenden Geräuschen, die er bereits im Haus des Barons in Farnham gehört hatte. Etwas, das klang wie eine vom Meerwasser benetzte Schiffstakelage, an der der Wind und die ruckartigen Bewegungen eines Schiffsrumpfes zerrten, der in den Wellen hin- und hergeschleudert wurde.
»Du scheinst ziemlich selbstsicher zu sein«, meldete sich die Stimme des Barons wieder. »Für ein Kind.«
»Denken Sie doch mal drüber nach. Ihr Plan ist nicht unbedingt wasserdicht, nur weil ihm zufällig zwei Männer zum Opfer gefallen sind. Durch alle möglichen Umstände könnte die Chemikalie zum Beispiel aus dem Uniformstoff herausgewaschen werden. Denken Sie daran, in England regnet es. Es regnet eine Menge. Und einige Soldaten werden ihre Uniformen schon einmal zum Waschen gebracht haben, bevor die Bienen sie erreichen. Vor allem die Offiziere.« Sherlock kam nun richtig in Fahrt, und sein Kopf sprudelte plötzlich nur so von Ideen, warum Maupertuis’ grandiose Verschwörung zum Scheitern verurteilt war.
»Statt die von Ihnen gelieferten Uniformen zu benutzen, ziehen einige Soldaten vielleicht ihre alten Waffenröcke vor und behalten sie, oder sie bringen ihren Regimentsschneider dazu, ihnen eine neue zu schneidern. Ich weiß nicht viel von Frankreich, Deutschland oder Russland, aber die Leute in England mögen es nicht, gesagt zu bekommen, was sie zu tun oder anzuziehen haben. Sie finden stets Mittel und Wege, um solche Anweisungen zu umgehen.«
»Und was ist mit den Bienen?«, fügte Virginia unerwarteterweise hinzu. »Wie viele von ihnen werden die Hauptinsel tatsächlich erreichen? Wie viele Bienen brauchen Sie, um alle Gegenden abzudecken, in denen die Armee stationiert ist? Haben Sie auch wirklich genug? Und was ist, wenn es einen Kälteeinbruch gibt und die Bienen sterben, oder wenn es in England irgendein Tier gibt, das sie frisst, oder wenn sie sich einfach irgendwo niederlassen, einen neuen Staat gründen und hier zu einem Teil der natürlichen Umgebung werden? Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich mit den einheimischen Bienen kreuzen, mit den britischen Bienen, und jede Spur von Aggressivität verlieren, auf der Ihr Plan beruht.«
»All diese Faktoren sind berücksichtigt worden«, erwiderte der Baron mit knochentrockener Stimme. Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit durchklang. »Und selbst wenn einige Uniformen vorher gewaschen worden sind und ein paar Bienen sterben, was soll’s? Viele Angriffe werden trotzdem erfolgreich sein. Es wird ein Massensterben geben. Und die britische Armee wird gelähmt sein vor Angst. Gelähmt. «
»Sie verstehen einfach nicht, wie die Briten denken, nicht wahr?«, spottete Sherlock. In seinem Geist blitzten Erinnerungen an diverse Schulstunden auf, an das, was er – zusammengekauert auf einem Stuhl in der Bibliothek seines Vaters – in Büchern und Zeitungen gelesen oder von seinem Bruder Mycroft gehört hatte.
»Haben Sie jemals etwas von dem Todesritt der leichten Brigade gehört?«
Das Knarren und Knarzen stoppte abrupt, und plötzlich hatte Sherlock das Gefühl, als ob viele Ohren aufmerksam seinen Worten lauschten.
»Oh, ja«, zischte der Baron. »Ich habe von dem Todesritt der leichten Brigade gehört.«
»Während des Krimkrieges 1854«, fuhr Sherlock unbeeindruckt fort, »bekamen die Soldaten des 4. und 13. leichten Dragonerregiments, des 17. Ulanenregiments sowie des 8. und 11. Husarenregiments während der Schlacht von Balaclava den Befehl, die russischen Stellungen anzugreifen. Sie stürmten durch ein enges Tal voran, in dem sie von vorne und von beiden Seiten russischem Kanonenfeuer ausgesetzt waren. Trotzdem sind sie einfach weitergeritten und haben, ohne in Panik zu geraten oder zu meutern, ihre Befehle ausgeführt. Ich behaupte nicht, dass blinder und bedingungsloser Gehorsam eine gute Sache ist, aber britische Soldaten haben praktisch ein Rückgrat aus Eisen und die Disziplin mit der Muttermilch aufgesogen. Ich weiß das, denn mein Vater ist Offizier. Sie geraten nie in Panik. Niemals. Nein, selbst wenn es Tote gibt, wird man damit umgehen, als wäre es ein gewöhnlicher Cholera- oder Pockenausbruch. Verstehen Sie denn nicht? Sie werden es einfach ignorieren. Das ist es, was die Briten zu tun pflegen. Deswegen ist das Britische Empire so groß und so stark. Wir ignorieren einfach die Dinge, die uns nicht passen. «
»Gut gesprochen«, sagte der Baron. »Aber das kaufe ich dir nicht ab. Offensichtlich möchtest du daran glauben, dass euer Empire auf stabilem Felsfundament errichtet ist. Doch da irrst du dich. Die Fundamente sind morsch, und das prachtvolle Gebäude darauf wird in sich zusammenfallen, wenn man nur kräftig genug dagegentritt.
Du denkst, dass morgen noch alles so ist wie heute. Aber das wird nicht der Fall sein. Die Welt wird sich ändern und das Gleichgewicht der Mächte sich zu Gunsten meiner Partner in der Paradol-Kammer verschieben.«
Paradol-Kammer? Was war das? Während Maupertuis weitersprach, prägte sich Sherlock den seltsamen Begriff genau ein. Könnte sich das doch noch als wichtiger und verhängnisvoller Versprecher erweisen, der Mycroft sicher brennend interessieren würde.
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