Wortlos zog Simon sein Telefon aus der Tasche. „Großfahndung einleiten: Unser Mann ist Nigel Owen. Gesucht im Zusammenhang mit dem versuchten Mord an Maureen Hughes und dem Mord an Julia Feldmann. Jeder verfügbare Mann soll raus.“
Er steckte das Telefon wieder weg. John war langsam wieder in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
„Sag mal, wie kamst du darauf, Renie überwachen zu lassen?“
Simon setzte ein überlegenes Lächeln auf. „John, du hast wohl vergessen, dass ich dich und Maggie seit unserer Kindheit kenne. Ihr spielt beide einfach gern den guten Samariter. Mir war klar, dass du nicht ruhen würdest, bis du etwas gefunden hättest, um deinen Freund zu entlasten. Ich muss zugeben, dass ich gehofft hatte, George Campbell knacken zu können und den Fall schnell zu lösen. Als ich aber feststellen musste, dass der Mann sturer als ein ganzes Pack Esel ist, gab ich Anweisung, dir Zugang zu ihm zu gewähren und stellte einen Mann ab, der dir wie ein Schatten überallhin folgte und mir Bericht erstattete.“
Entsetzt blickte John den Superintendenten an, der ungerührt fortfuhr. „Als Renie auf der Bildfläche auftauchte, wusste mein Detective natürlich nicht, wer sie war. Als er mir ein Foto von euch beiden beim Abendessen brachte, hätte mich fast der Schlag getroffen.“ Er zog missbilligend eine Augenbraue hoch. „Euer ganzer Clan hat einfach das Gen, sich ungefragt in fremde Angelegenheiten einmischen zu müssen. Aber lassen wir das. Nachdem Renie anfing, in dem Lokal zu arbeiten, in dem auch Julia Feldmann gekellnert hatte, haben wir unsere Überwachung auf sie konzentriert. Gestern Abend allerdings meldete der Beamte einigermaßen verwirrt, dass du das Lokal betreten hättest, aber nicht wieder erschienen wärst. Als er den Hinterausgang kontrollieren wollte, sah er dich auf der Straße sitzen. Du hättest ziemlich fertig ausgesehen, sagte er. Willst du mir sagen, was da los war?“
„Äh, nicht so wichtig. Übrigens habe ich noch eine Information, der du vielleicht nachgehen möchtest.“ Simon lauschte aufmerksam, als John wiedergab, was er über den ehemaligen Infanteristen Gerry Burrows erfahren hatte. „Vielleicht könnt ihr bei Scotland Yard herausbekommen, was aus ihm geworden ist. Es könnte ja eine Verbindung zu Nigel Owen geben.“
Simon nickte und stand auf. „Ich muss jetzt zurück in die Zentrale und zusehen, dass wir in den nächsten Stunden intensive Nachforschungen nach diesem Owen führen. “ Er zog eine Karte aus der Tasche. „Unter dieser Nummer kannst du mich jederzeit erreichen. Gib mir Bescheid, wenn die Operation vorbei ist.“ Schon verschwand er mit wehendem Mantel um die Ecke.
Als Maggie zurückkam, erzählte er ihr alles, was er von Simon erfahren hatte. „Ich darf gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn Simon nicht ein so gerissener Ermittler wäre und seine Leute auf mich und Renie angesetzt hätte.“
Maggie nickte nachdenklich. „Heute hat er all das wettgemacht, womit er uns über die Jahre geärgert hat. Ich schäme mich direkt wegen der Schimpfnamen, mit denen ich ihn insgeheim immer belegt habe.“
„Wir sollten ihm ein besonders schönes Geschenk zu Weihnachten besorgen, was meinst du?“
„Ja, das machen wir, John. Ich kümmere mich morgen gleich darum. Vielleicht frage ich Patricia, ob sie eine Idee hat. Außerdem möchte ich mich auch bei dem Detective bedanken, der Renie gerettet hat.“ Sie schwiegen einen Moment. Dann fragte Maggie, „Sag mal, du hast wirklich überhaupt nichts von der Überwachung gemerkt?“
„Gar nichts. Nur, als Renie mich in die Gasse hinter dem China-Restaurant geworfen hat, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, da wäre jemand.“
Maggie gluckste. „Die Geschichte hat Renie mir beim Frühstück erzählt. Das ist ja wirklich ein Heuler.“ Sie kicherte.
„Haha. Was denkst du, welche Angst ich bekam, als diese kleine Chinesin mit ihrer riesigen Fleischgabel auf meine Leibesmitte zielte? Und wie mich die Mädchen dann wie einen Sack Müll auf die Straße befördert haben – “ Weiter kam er nicht. Prustend lagen sie sich in den Armen und konnten nicht mehr aufhören, zu lachen.
Eine Schwester, die um die Ecke sah und erbost meinte, „Sie sind hier in einem Krankenhaus. Bitte seien Sie doch leiser.“, führte nur zu einem weiteren hysterischen Lachkrampf. Schließlich beruhigten sie sich und warteten in einträchtigem Schweigen, während der Zeiger der Uhr im Warteraum vorrückte.
John musste eingenickt sein. Er schrak hoch, als seine Schwester ihn leicht schüttelte. Dr. Forsythe stand vor ihnen. „Wir haben die Operation erfolgreich abgeschlossen, Mrs. Hughes. Ihre Tochter darf das Bein allerdings ein paar Tage lang unter keinen Umständen belasten. Danach kann sie behutsam beginnen, an Krücken zu gehen. Bis die Sache ganz ausgeheilt ist, können durchaus sechs Wochen vergehen.“
Maggie strahlte ihn an. „Das macht nichts. Die Hauptsache ist doch, dass sie wieder ganz gesund wird. Kann ich zu ihr?“
„Sie befindet sich im Aufwachraum. Wir werden sie im Lauf der Nacht auf ihr Zimmer bringen können. Mir wäre es am liebsten, Sie kämen morgen früh vorbei. Dann können Sie Maureen die Sachen bringen, die sie hier braucht und der Stationsarzt kann Ihnen alles Weitere erklären.“
John erhob sich ächzend. „Komm, Maggie, dann gehen wir jetzt am besten. Momentan können wir nichts für Renie tun, also kehrst du am besten zu Tommy und Bella heim.“
„Du hast recht. Alan dürfte auch allmählich zu Hause angekommen sein. Danke für alles, Doktor. Gute Nacht.“ Während sie draußen auf ein Taxi warteten, rief John den Superintendenten an.
„Danke für die Nachricht, John. Bis jetzt konnten wir Nigel Owen nicht lokalisieren. Aber immerhin konnten wir Li Chan in dem Lokal finden. Wir haben sie sicher untergebracht. Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich hat sie mir gesagt, dass sie Nigel Owen wenige Tage vor Julias Tod mit ihr gesehen hat. Nach dem Ende der Nachtschicht putzte sie noch die Küche, der Rest der Belegschaft war schon gegangen. Als sie im dunklen Speiseraum irgendetwas holen wollte, sah sie Julia direkt vor der Fensterfront mit Owen stehen. Er übergab ihr ein Päckchen. Am nächsten Tag, sagte Li, hätte sie Julia auf den Fremden angesprochen. Julia hätte sehr abweisend reagiert und gesagt, sie würde diesen Mann hassen und hoffen, sie müsste ihn nie wieder sehen.“ John hörte im Hintergrund leises Gemurmel. „Wir starten jetzt eine Einsatzbesprechung, ich muss gehen. Alles weitere morgen, John.“
John setzte Maggie in ein Taxi und machte sich auf den Heimweg. Trotz der klirrenden Kälte schlenderten etliche Passanten durch die nächtlichen Straßen, vorbei an den bunt geschmückten Schaufenstern und den allgegenwärtigen Weihnachtsbäumen, die mit ihren elektrischen Kerzen warmes Licht auf die Gehsteige warfen. Aus einigen Kneipen drang Musik.
John hatte das Gefühl, blind auf einen Abgrund zugelaufen zu sein. Erst, als ihn eine helfende Hand zurückgerissen hatte, hatte er die Augen geöffnet und die gähnende Tiefe wahrgenommen, die drohte, ihn und die Menschen, die er liebte, zu verschlingen.
Leise knarrend öffnete sich die Tür der Kapelle St. Peter ad Vincula. John war lange nicht in einem Gottesdienst gewesen, aber heute Nacht hatte er das Bedürfnis, eine Kerze anzuzünden. Danach ging er die wenigen Schritte zu seiner Wohnung und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Früh am nächsten Morgen saß John kribbelig in der mittlerweile vertrauten Eingangshalle von Scotland Yard. Nachdem er Bonnie und Mullins von den Geschehnissen des gestrigen Tages berichtet hatte, hatte der Chief ihm einen halben Tag freigegeben.
„Sehen Sie zu, ob Sie George nicht dazu bewegen können, nun eine Aussage zu machen. Das Einzige, wofür Richard sich wird verantworten müssen, ist sein Drogenkonsum. Wenn man bedenkt, welchen Dreck manch andere von unseren Volksvertretern am Stecken haben, ist das ja noch direkt harmlos.“, sagte Mullins zynisch.
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