Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt begann er zudem erbärmlich zu zittern. Sein Magen knurrte vernehmlich, als er an das entgangene Essen dachte. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er eine Bewegung. Als er den Kopf hob, war niemand zu sehen. Wahrscheinlich Ratten. Riesige Ratten, die sich über mich hermachen werden, wenn ich hier jämmerlich erfroren bin, bemitleidete er sich selbst.
Als Renie nach endlos langer Zeit verstohlen die Hintertür öffnete und herauslugte, traf sie der mordlustige Blick ihres Onkels.
„Sag jetzt nichts, John! Ich erkläre dir morgen alles. Hier ist deine Jacke. Gute Nacht.“ Sie warf ihm eine Kusshand zu und verschwand. John blieb nichts übrig, als zur nächsten U-Bahn zu hinken.
Früh am nächsten Morgen nahm er den Telefonhörer zur Hand und wählte mit einem grimmigen Lächeln. „Bella Hughes“, meldete sich seine jüngste Nichte etwas atemlos.
„Guten Morgen, Bella, Onkel John hier. Du machst dich wahrscheinlich gerade auf den Weg zur Schule?“
„Ja, Mummy fährt schon das Auto aus der Garage. Möchtest du sie sprechen?“
„Nein, ich hätte gern mit Renie gesprochen. Ist sie da?“
Bella kicherte. „Die ist bestimmt erst spät heimgekommen. Gestern sagte sie, das Lokal schließt nie vor zwei Uhr morgens. Also schläft sie sicher bis Mittag.“
„Heute nicht. Weck sie bitte auf und sag ihr, ich möchte sie auf der Stelle sprechen.“
„Okay, wie du meinst. Aber sie hat morgens immer üble Laune, kann ich dir sagen.“
„Die habe ich heute auch“, meinte John finster.
„Hmmm? Was gibt’s so früh?“
„Meine liebe Maureen, da du dir ja sicher Sorgen um deinen Onkel machst, wollte ich dir so schnell wie möglich Bescheid geben, dass ich all deine Attacken gestern mit nur einem verstauchten Fuß, einem ruinierten Sakko und einer Beule am Hinterkopf überstanden habe. Ich hoffe, du bist jetzt beruhigt.“, sagte John in zuckersüßem Ton. „Es macht auch überhaupt nichts, dass dein Chef mich wahrscheinlich als Schwerverbrecher verhaften lassen wird, falls ich einmal zufällig wieder den Fuß in dieses Lokal setzen sollte.“
„Du bist sauer, was?“
„Messerscharf erkannt. Was sollte dieser ganze Zirkus?“
„Hör mir zu, John“ Sie sprach, als hätte sie einen etwas beschränkten Dreijährigen vor sich. John knirschte mit den Zähnen.
„Du hast doch das Mädchen gesehen, Li.“
„Die, die drohte, mir eine Fleischgabel in – “ Er räusperte sich. „Also wo auch immer hin – zu stecken?“
„Genau. Sie ist die jüngste Tochter von Mr. Chan und total verschüchtert. Seit Kindesbeinen steht sie in der Küche und darf nichts anderes tun, als das verdammte Geschirr zu waschen. Alle schubsen sie herum. Ihre Familie hält sie für zurückgeblieben, aber das glaube ich nicht.“
„Das ist zweifellos eine herzergreifende Geschichte. Aber was hat das mit deiner gestrigen Aktion zu tun?“
„Lass mich doch ausreden. Alle anderen haben gleich abgeblockt, als ich ganz dezent mal nach Julia gefragt habe. In diesem Betrieb sind sie alle verwandt oder verschwägert und sooo dicke miteinander. Keiner will irgendwas mit der Polizei zu tun haben. Li aber hat nur still genickt, als ich sie fragte, ob sie Julia kannte. Ich habe das Gefühl, sie weiß irgendwas, aber sie traut sich nichts zu sagen. Sie kennt mich kaum und sicher hat sie Angst vor ihren Verwandten. Nachdem ich ja nicht für ewig in diesem Schuppen arbeiten will – das sind wirklich Ausbeuter, sage ich dir – habe ich mir diesen Plan ausgedacht, um schnell Lis Vertrauen zu gewinnen.“
„Indem du mich als Vergewaltiger hinstellst?!“
„Mann, du bist doch Psychologe, oder nicht: Wahrscheinlich zum ersten Mal hat Li gestern Nacht einer anderen geschundenen Kreatur beistehen können und wir haben gemeinsam den Bösewicht vertrieben.“
Geschundene Kreatur!
„Natürlich habe ich ihr dann noch in schillernden Farben erzählt, wie du mich schon während meiner Schulzeit – du warst nämlich mein Mathelehrer – immer verfolgt hast und mir für entsprechende Gegenleistung gute Noten versprochen hast – “
„Oh Gott, ich kann mich in Chinatown nie wieder sehen lassen! Ich bin ein pädophiler Vergewaltiger!“
„Nun reg dich wieder ab. Wenn wir den Mörder gefunden haben, gehe ich noch mal mit dir hin und kläre die ganze Sache auf, in Ordnung?“ John stöhnte nur.
„Heute habe ich Mittagsschicht und danach gehe ich mit Li einen Kaffee trinken, bevor sie wieder zu Arbeit muss. Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich nichts aus ihr herausbekommen kann. Pass nur auf, mein Manöver von gestern wird sich sicher auszahlen. Und jetzt gute Nacht.“ Sie legte auf.
Verdattert starrte John das Telefon an und wusste nicht, ob er lachen, wütend sein oder Renie für ihre Unerschrockenheit und ihre unglaublichen Einfälle bewundern sollte.
Während John seine Uniform anzog, kleidete sich auch ein anderer Mann an. Ein Mann, der erkannt hatte, dass er möglicherweise nicht alle Spuren erfolgreich verwischt hatte. Und der beschlossen hatte, diesen Fehler heute noch auszubügeln.
Müde kehrte John nach der Abendfütterung in seine Wohnung zurück und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. Ein Blick in seinen Kalender zeigte ihm, dass er nur noch wenige Tage Dienst hatte, bevor er für die Weihnachtstage zu seinen Eltern fuhr. Die letzten Wochen hatten an ihm gezehrt. Eine Pause konnte er nun gut gebrauchen. Er zog sich die Stiefel von den Füßen und wackelte mit den kalten Zehen.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er den Tower vielleicht gar nicht würde verlassen können. Als der Urlaubsplan aufgestellt wurde, war George noch für die Pflege der Raben verantwortlich gewesen. Nun sah es nicht so aus, als würde George rechtzeitig zu Weihnachten wieder heimkehren können. John runzelte die Stirn und nahm sich vor, schnellstmöglich mit Chief Mullins darüber zu sprechen. Da schrillte das Telefon.
„John! Hast du eine Ahnung, wo Renie ist?“ Maggie klang beunruhigt.
„Sie sagte mir heute früh, dass sie sich nach Ende ihres Dienstes heute mit einer Arbeitskollegin auf einen Kaffee treffen wollte.“
„Ich weiß. Aber wir hatten vereinbart, dass wir uns danach, so gegen siebzehn Uhr, bei Harrods treffen, um ein Geschenk für Renies Patentante auszusuchen. Ich habe schon versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber da meldet sich niemand.“
John sah auf die Uhr. „Maggie, es ist erst Viertel nach fünf. So, wie ich Renie kenne, ist sie nicht gerade die Pünktlichkeit in Person, oder?“
„Du hast recht. Aber ich kann mir nicht helfen, ich habe ein ganz komisches Gefühl.“
John fasste einen Entschluss.
„Wo bist du?“
„Vor dem Haupteingang von Harrods.“
„Versuch weiter, Renie am Telefon zu erreichen. Ich mache mich jetzt gleich auf den Weg, also müsste ich in spätestens zwanzig Minuten bei dir sein.“
Wenige Tage vor Weihnachten waren die Straßen ein Chaos. Also entschied John sich gegen ein Taxi und spurtete zur U-Bahn. Die Waggons der District Line platzten aus allen Nähten. Er quetschte sich hinein.
Im Vorweihnachtsstress schienen Johns Landsleute ihre legendäre Höflichkeit vergessen zu haben und es kam zu Schubsereien und ungehaltenen Wortwechseln. John stand in dem überhitzten Waggon voller aneinandergedrängter Leiber der Schweiß auf der Stirn. In South Kensington musste er umsteigen.
„Sehr geehrte Fahrgäste, die Piccadilly Line verkehrt wegen eines Personenschadens nicht auf der Strecke zwischen Covent Garden und Holborn. Für alle Ziele zwischen Holborn und Cockfosters nehmen Sie bitte die Circle und Central Line nach Holborn. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten.“
Dies berührte John ebensowenig wie die meisten seiner Mitfahrer: Knightsbridge mit seinen großen Kaufhäusern schien an diesem Abend das Ziel aller Einwohner Londons zu sein. Als die Station endlich erreicht war, ergoss sich ein Strom von Menschen über die Treppe nach oben. John schob sich durch die Menge und hielt nach Maggie Ausschau. Er konnte sie nicht entdecken. Vielleicht stand sie vor einem der anderen Eingänge.
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