„Dr. Farnsley, vielleicht können Sie sich erinnern? John Mackenzie. Wir haben uns bei der Eröffnung des Weihnachtsmarktes im Tower getroffen.“
Der Chefarzt stutzte, dann erinnerte er sich. „Natürlich, Sie sind der Ravenmaster des Towers, nicht wahr? Und Sie sind mit unserer reizenden Mrs. Whittington-Armsworth bekannt.“ Letzteres schien den Arzt schwer beeindruckt zu haben.
John lächelte. „Ich habe den Ravenmaster eine Weile vertreten, aber wir hoffen, dass er so schnell wie möglich wieder seinen Dienst antreten kann, Doktor.“, stellte er klar. „Aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Ihre Patientin ist übrigens meine Nichte, Maureen Hughes.“
„Gut, dann wollen wir mal. Hat mich gefreut, Mr. Mackenzie.“
John wanderte auf dem Gang hin und her, während er auf das Ende der Visite wartete. Auf einmal hörte er Renies Stimme durch die Tür herausdringen. Ohne die Worte verstehen zu können, war unschwer zu erkennen, dass sie erbost war. Dann eine dunklere Stimme, die sich bemühte, sie zu beruhigen. Nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür und das Regiment Mediziner kam heraus. Einige trugen ein verstohlenes Grinsen zur Schau. Das Gesicht der Oberschwester war gerötet und sie blitzte John im Vorbeirauschen erzürnt an. Der Chefarzt murmelte John zu, „Das ist ja – äh – eine kämpferische junge Dame, Ihre Nichte.“ Sie verschwanden im Nebenzimmer.
Als John wieder hineinkam, funkelte Renie ihn wütend an. „Der hat sie doch nicht alle. Stell dir vor, ich soll noch mehrere Tage hier liegen und dann kann ich mich erst mal nur mit dem Rollstuhl bewegen, später auf Krücken. Bis ich wieder richtig laufen kann, werden Wochen vergehen.“
John setzte sich vorsichtig. „Ich verstehe, dass das schlimm für dich ist, Renie. Aber scheinbar hast du einen ziemlich komplizierten Bruch und der soll stabil wieder zusammenwachsen, ohne dass etwas verrutscht.“
Renie hieb mit der Hand auf die Bettdecke. „John! Du hast wohl ganz vergessen, dass ich gleich nach Neujahr nach Südafrika fliege? Dieses Projekt war mein Traum! Und was soll ich da in einem Rollstuhl, kannst du mir das verraten? Mist, Mist, Mist!“
Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Oh, ich könnte heulen. Was soll ich dann das nächste halbe Jahr machen? Alle in meinem Semester sind in irgendwelchen Projekten eingesetzt, die über sechs Monate gehen. Nur ich sitze zu Hause und drehe Däumchen.“ Verzweifelt zog sie sich die Bettdecke über den Kopf. „Lass mich allein, John. Ich möchte sterben.“
„Renie, es tut mir so leid. Ich weiß, du hattest dich schon sehr auf die Zeit in Afrika gefreut. Aber ich bin sicher…“
Ein unwilliges Knurren drang unter der Decke hervor. „Laber hier nicht rum, John. Ich will kein Mitleid. Geh einfach.“
John wusste, dass mit seiner Nichte in dieser Stimmung nicht zu reden war. „Ich komme morgen wieder, Renie. Mach´s gut einstweilen.“ Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er sie rufen. Er steckte den Kopf noch einmal hinein. „Was ist?“
„Bring mir wieder die Schokolade mit, ja?“
John grinste. „Ein ganzes Dutzend Tafeln, wenn du willst. Bye.“
Nach seiner letzten Führung ging John über den Hof zum Rabenhaus. Zu seinem Erstaunen glomm ein Lichtschein aus der Holzhütte. Er zog die Tür auf. „George!“ Der Ravenmaster legte das Messer hin, mit dem er das Fleisch kleingeschnitten hatte. Sorgfältig wischte er sich die Hände an der Schürze ab. Wortlos kam er die wenigen Schritte zu John herüber und streckte ihm die Hand hin. „Danke. Ich … ich weiß nicht, wie ich dir das je vergelten kann. Ohne dich…“ Seine Stimme brach. Tränen liefen über seine Wangen. John legte dem Älteren den Arm um die schmalen Schultern und schob ihn sanft zu einem alten Holzstuhl hin. Er selbst setzte sich auf einen Hocker. „Es ist schön, dass du wieder da bist“, sagte er schlicht.
George fasste sich wieder und schnäuzte sich kräftig. „Ich bin noch nicht lange zurück. Marcia hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich plötzlich in der Tür stand. Ich bin so glücklich, wieder mit dem alten Mädchen vereint zu sein. Und natürlich hatte ich auch Sehnsucht nach der Rasselbande hier. Ich bin gespannt, ob die Kerlchen mich überhaupt noch erkennen.“
John lachte. „Da habe ich keine Zweifel. Wie wär’s – bereiten wir gemeinsam das Futter vor?“ In diesem Moment erschallte eine Trompetenfanfare draußen. Fragend blickte John auf. George aber begann zu strahlen. „Gworran!“ Er eilte nach draußen. Innerhalb kürzester Zeit kamen alle neun Raben herangeflattert oder gehüpft und scharten sich um ihren alten Pfleger. George sprach gerührt auf sie ein. John sah dem Treiben einige Minuten lächelnd zu, dann beeilte er sich, das Futter fertigzumachen und in der Voliere zu deponieren.
Normalerweise stürzten sich die Vögel in Windeseile auf die Näpfe, sobald das Gitter der Voliere geöffnet wurde. Heute aber schienen sie sich kaum vom Ravenmaster trennen zu können. Schließlich scheuchte George sie sanft hinein und verschloss das Tor. „Die Tiere sehen gut aus. Du hast dich offenbar vorbildlich um sie gekümmert.“ Er kam in die Hütte zurück und schlug das Buch auf, in dem John die Aufzeichnungen über die Vögel weitergeführt hatte. Zufrieden nickend legte er es wieder weg und sah John an.
„Ich weiß, dass ich keinen besseren finden könnte, also frage ich dich: Möchtest du offiziell Assistent des Ravenmasters werden? Du hättest natürlich noch vieles zu lernen…“
„Sehr gern, George. Es macht mir Freude, für die Vögel zu sorgen.“
Meistens zumindest.
„Ich freue mich, wenn du mir alles beibringst, was du weißt.“ Feierlich schüttelten die Männer sich die Hände.
„Nun erzähle aber mal, George: Wie war das Verhör? Offensichtlich konntest du den Superintendenten von deiner Unschuld überzeugen, sonst hätte er dich nicht so prompt freigelassen.“
George ließ sich auf den Stuhl fallen. „Ich sage dir, vorher habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Aber nachdem ich mir geschworen hatte, die reine Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen, fiel es mir gar nicht so schwer, Whittingtons Fragen zu beantworten. Danach fühlte ich mich sogar richtig erleichtert. Die Polizei glaubte mir wohl, denn als das Gespräch zu Ende war, sagte Whittington, ich könne gehen. Nun hoffe ich, dass Richard es genauso machen wird. Das ständige Lügen macht einen ganz kaputt.“
John nickte. „Du hast recht. Was ist mit Marcia?“
„Vor dem Gespräch mit ihr hat mir fast noch mehr gegraut als vor dem Polizeiverhör. Ich dachte, es bricht ihr das Herz, wenn ich ihr von den Fotos erzähle und was sie über Richard aussagen, aber sie hat es erstaunlich gelassen aufgenommen. Nach ihrem Suizidversuch hattest du ihr ja versichert, ich wäre unschuldig. Als ich aber dennoch die Aussage verweigerte, wurde ihr im Lauf der Zeit klar, dass ich damit jemanden decken wollte. Sie wusste, das konnte nur Richard sein. Sie sagte mir, sie habe mich seit Tagen im Gefängnis besuchen wollen, um mir zu sagen, dass ich die Karten auf den Tisch legen soll. Dann aber hätte sie jedes Mal wieder der Mut verlassen, weil sie Angst hatte, was sie über ihren Sohn herausfinden würde. Nun erscheint sie mir, so schlimm die ganze Geschichte auch ist, auch ein wenig erleichtert zu sein.“
John klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Du hast das Richtige getan, George. Nun warten wir´s ab, was Richard aus der Situation macht.“
Beide fuhren herum, als das Telefon klingelte. John hob ab.
„John, ist George bei dir? Er ist schon vor einer Ewigkeit weggegangen.“
„Ja, Marcia, er ist hier.“ Er blinzelte George zu. „Es tut mir leid, ich habe ihn aufgehalten. Und er konnte auch die Raben nicht so schnell wieder verlassen, die Tierchen sind ganz glücklich, dass er wieder hier ist.“
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