Ihm war jetzt klar, dass zur Verteidigung des Königreichs jede Regel gebrochen werden konnte, jedes Mittel recht war. Dann erinnerte er sich an das von James Read so abrupt beendete Gespräch im Haus des Kommissars und wusste intuitiv, dass noch mehr hinter den Erklärungen des Richters steckte.
»Die von Lieutenant Ramillies angefertigten Zeichnungen haben uns bewiesen, dass Lee das Unterseeboot entscheidend verbessert hat«, ergriff jetzt Colonel Congreve das Wort. »Wir mussten herausfinden, ob dieses Boot tatsächlich als Kriegsgerät benutzt werden kann. Und Lees erfolgreicher Angriff auf die Thetis hat das bestätigt.«
»Und wenn ich es geschafft hätte, das Unterseeboot zu zerstören?«, fragte Hawkwood.
»Wir haben ja noch die Zeichnungen, die Master Woodburn Officer Warlock gegeben hat. Damit und mit den Informationen, die Lieutenant Ramillies uns aus Frankreich hat zukommen lassen, haben wir eine gute Ausgangsbasis für eigene Pläne.«
»Eigene Pläne wofür?«, fragte Hawkwood, obwohl er bereits ahnte, worauf der Colonel hinauswollte.
»Für den Bau eines eigenen Unterseeboots natürlich.«
Hawkwood wurde schwindelig.
»Und ich muss zugeben«, sagte der Colonel strahlend, »wir waren verdammt beeindruckt. Sagen Sie, Hawkwood, stimmt es, dass Lee ein Gerät konstruiert hat, mit dem man über Wasser sehen kann, wenn das Boot untergetaucht ist?«
»Er nannte es ›das Auge‹«, sagte Hawkwood hölzern und fragte sich, welcher Wahnsinn da entfesselt wurde.
»Großartig!«, verkündete der Colonel. »Ich kann es kaum erwarten, mir dieses Gerät bis ins kleinste Detail anzusehen.«
Hawkwood starrte ihn fassungslos an.
»Sie glauben doch nicht, dass wir dieses verdammte Ding auf dem Grund der Themse liegen lassen, oder?«
»Dieses Ding « , sagte Hawkwood, »ist eine tödliche Falle. Es ist explodiert.«
»Richtig«, stimmte Congreve zu und nickte. »Weil es explodieren sollte.«
Ohne auf Hawkwoods Verwirrung zu achten, ergriff James Read jetzt das Wort. »Master Woodburn hat dafür gesorgt. Er hat während seiner Gefangenschaft im Lagerhaus ein Tagebuch geführt, das wir bei dem Toten gefunden haben. Es waren nur ein paar Zettel, auf denen er beschrieb, wie er den Zeitregler an der Bombe repariert und gleichzeitig einen eigenen Sabotageakt vorbereitet hat. Wie es scheint, konnte er nachts seine Zelle verlassen, weil sein Wächter Sparrow die Angewohnheit hatte, sich in einer Kneipe zu besaufen. Er glaubte wohl, der alte Mann sei sicher in seiner Zelle eingeschlossen. Und während Sparrows Abwesenheit hat Master Woodburn einige Veränderungen am Unterseeboot vorgenommen. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, sich Sprengstoff zu besorgen und eine Bombe zu konstruieren, die durch eine Art Uhrwerkszünder zu einem bestimmten Zeitpunkt – nachdem der Torpedo vom Heck des Boots abgefeuert worden war – zur Detonation gebracht wurde.«
Hawkwood erinnerte sich daran, dass Josiah Woodburn ihm etwas ins Ohr hatte flüstern wollen, als Lee und die Frau die Zelle betreten hatten. Wahrscheinlich hatte er ihm das Geheimnis um seine eigene Bombe anvertrauen wollen. Der Uhrmacher war also nicht nur aus Sorge um seine Enkelin zurückgeblieben, als er Officer Warlock zur Flucht verholfen hatte, sondern weil er geplant hatte, Lees Unterseeboot nach dem erfolgten Angriff auf die Thetis zu sabotieren. Und dieser Ausdruck hatte in den Augen des alten Mannes gelegen: das Wissen um seinen eigenen Tod und um den vermeintlichen Tod Hawkwoods, sobald dieser in ein Boot stieg, das dem Untergang geweiht war.
»Sie wollen die Narwal bergen lassen?«, fragte Hawkwood, noch immer fassungslos.
Cogreve nickte. »Ja. Und wir haben auch schon einen Mann, der sich mit Unterseebooten auskennt.«
Jetzt wurde für Hawkwood aus den Puzzlesteinchen allmählich ein fertiges Bild. »Captain Johnstone«, sagte er nur.
»Stimmt. Der Mann ist zwar ein Schurke, aber ein begabter. Er hat mit Fulton an der Konstruktion der Nautilus gearbeitet. Man könnte ihn einen Hansdampf in allen Gassen nennen. Er war Lotse im Ärmelkanal, Freibeuter, Schmuggler und hat sogar zwei Jahre im Schuldturm gesessen. Kein Typ, den man zu einer Abendgesellschaft einladen würde, aber er ist der beste Mann für diese Aufgabe. Daran besteht kein Zweifel.«
Ich habe also Congreves Miene vorhin, als Captain Johnstone das Zimmer verlassen hat, richtig gedeutet, dachte Hawkwood. Der Colonel hält nicht viel von den Qualitäten dieses Mannes.
»Also sind Sie jetzt am Zug«, sagte Hawkwood. Er konnte seine Wut nicht mehr unterdrücken. »Was soll’s denn werden? Wollen Sie jetzt Napoleons Staatsbarkasse auf der Seine torpedieren? Dann sind wir keinen Deut besser als die Froschfresser. Worum, zum Teufel, geht es hier eigentlich?«
James Read sah ihm in die Augen und sagte: »Um den Sieg natürlich, Hawkwood – worum denn sonst?«
Runner Jeremiah Lightfoot dachte an sein Bett. Und an seine rundliche Frau Ettie, mit der er gern dieses Bett geteilt hätte. In letzter Zeit hatten sie nicht viel voneinander gehabt. Zuerst war er zum Begleitschutz des Goldtransports der Bank von England abkommandiert worden, und dann hatte der Oberste Richter ihn in den Norden geschickt, wo er Lord Mandrake hatte festnehmen sollen. Reine Zeitverschwendung, denn der Vogel war bereits ausgeflogen. Und kaum war er wieder in London und hatte sich auf einen geruhsamen Abend gefreut, war er wieder losgeschickt worden und saß jetzt an Bord eines Schiffs an einem dunklen Kai. Nur die Schiffskatze und eine kleine Flasche Brandy vertrieben ihm die Langeweile.
Die Katze war ein freundliches Tier. Sie rieb sich an seinen Beinen und schnurrte, wenn er sie streichelte. Aber er glaubte, dass die Katze eher an einem guten Bissen als an ihm interessiert war. Leider hatte Lightfoot nichts zu essen dabei.
Außer einem Matrosen, der, statt Wache zu schieben, in seiner Hängematte auf dem Vorderdeck schnarchte, war niemand an Bord. Die Mannschaft war an Land gegangen und verbrachte den letzten Abend vor dem Auslaufen in verschiedenen Kneipen. Die Madrilena, ein portugiesisches Schiff, würde mit der Flut am nächsten Morgen in See stechen und Runner Lightfoots Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass diese Dame mit dem Schiff segelte. Die junge Frau war am späten Nachmittag von zwei Constables an Bord gebracht worden. Der Kapitän hatte ihr sogar seine Kajüte zur Verfügung gestellt.
Als sich die schöne Frau abends an Deck ein wenig ihre Füße vertreten hatte, war es Jeremiah Lightfoot ein Vergnügen und eine willkommene Abwechslung zugleich gewesen, sie zu beobachten. Natürlich waren ihr seine bewundernden Blicke nicht entgangen, und sie hatte ihn mehrmals mit einem Lächeln in den dunklen Augen angesehen. Lightfoot hatte sich vorgestellt, wie es wohl wäre, mit einer solchen Frau zusammen zu sein. Aber es blieb bei der Illusion.
Die Abenddämmerung senkte sich über den Kai, als eine kleine, hurtige Gestalt in Richtung Schiff rannte. Lightfoot sah den Jungen näher kommen und stand auf.
Auf der Gangway blieb der Junge stehen und hielt einen gefalteten Zettel in die Höhe. »Ich habe eine Nachricht für die Lady.«
»Ach, tatsächlich? Und wie heißt du?«
»Man nennt mich Tooler.«
Lightfoot versteifte sich und warf einen Blick übers Deck. Der Matrose schnarchte noch immer in seiner Hängematte.
»Warte hier!«, befahl er dem Jungen.
Dann ging er zur Kapitänskajüte und sah Licht hinter der Tür brennen. Er klopfte leise.
»Herein!«
Sie saß an dem kleinen Tisch und las in einem Buch. Als er eintrat, blickte sie auf und fragte: »Ja, was gibt’s?«
Das Haar fiel ihr lose auf die Schultern. Das tief geschnittene Dekolletee ihres Kleides spannte sich über ihrem üppigen Busen. Ihre Haut schimmerte im Licht der Laterne. Lightfoot schluckte. »Da ist ein Junge. Er sagt, er habe eine Nachricht für Sie.«
Читать дальше