Sparrow fing an zu kurbeln. Langsam, Zentimeter um Zentimeter bewegte sich die Narwal voran. Das Klicken der Winde war deutlich zu hören, als die Leine von der Winde durch den Schlitz im Horn zu dem Torpedo am Heck lief. Sobald das Boot aus dem Schatten unter dem Schiffsrumpf glitt, fiel wieder fahles Licht von der Wasseroberfläche in den Innenraum. Lee löschte die Laterne.
In diesen paar Sekunden, zwischen dem Erlöschen des Lichts in der Laterne und dem Einfällen des Tageslichts durch die Bullaugen, gelang es Hawkwood endlich, nach unten zu greifen und das Messer aus der Innenseite seines Stiefels zu ziehen.
Hawkwood hatte keine Ahnung, wie viel Zeit er hatte, bis sich der Torpedo aus seiner Verankerung lösen würde und auf sein Ziel zuschoss. Der Countdown bis zur Detonation hing von der Länge der Abzugsleine ab, und die rollte schnell von der Winde. Während er darüber nachdachte, verstrichen kostbare Sekunden. Da Lee und Sparrow jetzt mit dem Navigieren des Boots beschäftigt waren, hatte er nur diese eine Chance. Er drehte das Messer mühsam um und fing an, seine Fessel zu durchtrennen.
Sparrow drehte mit aller Kraft die Kurbel. Schweiß rann ihm über Gesicht und Oberkörper und tropfte auf den Boden.
Lee zählte leise, holte seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick auf das Zifferblatt.
Die Narwal machte etwa zwei Knoten. Ungefähr sechzig Meter vom Schiff entfernt ging ein leichter Ruck durch das Boot. Auf diesen Augenblick hatte Lee gewartet. Die Leine war bis zum Ende von der Winde abgerollt und die Vorwärtsbewegung des Boots zerrte an dem Fass im Heck. Der Torpedo hatte sich vom Rumpf gelöst und schoss jetzt auf sein Ziel zu.
Zehn Sekunden später, als der Torpedo gegen den Kiel des Kriegsschiffs prallte und die Leine, die letzte Verbindung zur Narwal, abriss, ging wieder ein Ruck durch das Unterseeboot.
Lee klammerte sich ans Schott und schrie: »Festhalten, Sparrow!«
Endlich riss der Strick, Hawkwood drehte das Messer um, sprang auf und zielte mit der Klinge auf Sparrows Kehle.
In diesem Augenblick hörte er die Detonation. Der Torpedo war explodiert.
Hawkwood wusste in dem Moment, als er zum Sprung ansetzte, dass sein Angriff fehlschlagen würde. Er hörte Lees Warnschrei und sah, dass sich Sparrow blitzschnell umdrehte. Die Druckwelle der Detonation brachte das Boot aus dem Gleichgewicht. Hawkwood stürzte und rutschte über den Boden.
Sparrow, der an schwankende Schiffe gewöhnt war, kam als Erster wieder auf die Beine. Mit einem Wutschrei bückte er sich und riss Hawkwood das Messer aus der Hand, schleuderte es von sich und zerrte den Runner an den Haaren auf die Knie. Dann zog er die Pistole aus seinem Gürtel. Das Laden kam ihm unnatürlich laut vor. Hawkwood starrte auf die Pistole in Sparrows Hand.
»Du Bastard!«, zischte Sparrow und presste zum zweiten Mal an diesem Morgen den Finger um den Abzug.
Der Knall der zweiten Detonation war ohrenbetäubend.
Hawkwood sah nur noch das blanke Entsetzen in Sparrows Augen, als ein Kupfersplitter des explodierenden Luftzylinders dessen Halsschlagader durchbohrte. Ein Schwall Blut ergoss sich über Hawkwoods Gesicht und Schultern. Zu Tode erschrocken sah Hawkwood, wie Sparrow, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, in die Knie sank. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Ein Schwall hereinströmenden Wassers traf Hawkwood plötzlich mit aller Wucht und schleuderte ihn gegen das Steuerbordschott.
Der Bug der Narwal kippte nach unten, und das Boot legte sich auf die Backbordseite. Es war, als hätte ein Riese das Boot gepackt und gegen eine Wand geschleudert. Hawkwood klammerte sich verzweifelt an eine der Eisenrippen, als Sparrows Leiche nach vorne fiel und ihn gegen das Schott drückte. Er zog die Knie an und stieß Sparrow von sich. Keuchend nach Atem ringend, hielt er sich an der Eisenrippe fest und richtete sich mühsam auf. Sein Trommelfell schien zu platzen.
Dann schlingerte die Narwal nach Steuerbord, und es klang wie eine schwere Eisentür, die knarrend an verrosteten Angeln schwang. Hawkwood war vor Entsetzen wie gelähmt und krallte sich mit den Fingerspitzen fest. Die Auswirkungen der zweiten Detonation waren katastrophal. Durch das Leck im Heck strömte unaufhörlich Wasser und überflutete das Boot rasend schnell. Hawkwood sah, dass Lee fieberhaft an Reglern und Hebeln zerrte, aber die Tiefenruder funktionierten nicht mehr. Völlig außer Kontrolle geraten, sank die Narwal nun wie ein Stein.
Das Schiff brannte lichterloh.
Die Detonation hallte wie die Stimme Gottes durch die Werft und alle – Arbeiter, Matrosen, Marinesoldaten und der Oberste Richter – brachten sich in Sicherheit. Menschen schrien in panischer Angst und rannten völlig kopflos durcheinander. Irgendwo schrillte eine Alarmglocke.
Der mittlere Teil der Thetis war nur ein rauchendes Wrack, der Mast war auf das Vorderdeck gestürzt und das Notsegel lag wie ein Leichentuch über den Schandeckeln. Die zuvor so stolz im Wind flatternden Flaggen hingen jetzt zerfetzt und versengt an der Reling. Flammen leckten hungrig aus Schießscharten und offenen Luken. Das Schiff bekam Schlagseite.
Mehrere Männer waren durch die Wucht der Detonation über Bord geschleudert worden oder sprangen ins Wasser. Verzweifelt um Hilfe rufend, platschten und zappelten sie im Hafenbecken. Blut färbte das Wasser rot.
Jago, dessen Ohren wie eine Bugglocke dröhnten, hätte es beinahe übersehen.
Warum er ausgerechnet in diesem Augenblick auf die Themse hinausschaute, würde ihm immer ein Rätsel bleiben. Und er war sich nicht einmal sicher, was er eigentlich gesehen hatte: eine Bewegung im Wasser, etwa hundert Meter von dem zerstörten Kriegsschiff entfernt. Wie eine kurz aufspritzende Fontäne oder eine Woge, als wäre etwas an die Wasseroberfläche geschwappt und wieder gesunken. Jetzt kräuselten sich an der Stelle nur noch kleine Wellen, die sich gleichmäßig ringförmig ausbreiteten.
Da kam ein Marinesoldat angerannt, die Flinte im Anschlag. Es war der Corporal, der ihm den Zutritt zur Werft verwehrt hatte.
»He du, Bursche! Komm mit!«, rief Jago ihm zu.
Dieses Mal gehorchte der Corporal. Wortlos folgte er Jago zu der Treppe an der Kaimauer. Jago stieg in das kleine Boot und griff nach einem Ruder.
»Na los Junge. Spring rein!«, rief er. Der Corporal schulterte seine Flinte, stieg die Treppe hinunter und kletterte vorsichtig in das schwankende Boot.
Jago löste die Fangleine, stieß das Boot vom Kai ab und drückte dem Corporal das zweite Ruder in die Hand. »Und jetzt ruderst du, mein Junge. Und zwar mit voller Kraft voraus!«
Wegen der Schieflage des Unterseeboots drang kaum noch Licht durch die Bullaugen. Auf dem Grund der Themse angekommen, schrammte es über Sand und Steine wie eine Zweiundvierzig-Pfund-Kanone über ein sturmgepeitschtes Deck. Nach einer – wie es Hawkwood schien – Ewigkeit bewegte sich das Boot nicht mehr, und es herrschte – bis auf das Sprudeln des eindringenden Wassers – unheimliche Stille.
Hawkwood ließ die Eisenrippe los und tastete nach seinem Messer. Er stand bereits knietief im kalten Wasser. Sparrows Leiche hatte sich mit dem Gesicht nach unten am Pumpenschwengel verkantet. Als Hawkwood das Messer an der Klinge zu fassen bekam, stürzte sich der Amerikaner auf ihn.
Lee hatte seine Pistole im ausbrechenden Chaos verloren, aber er hatte eine andere Waffe in der Hand. Hawkwood hob instinktiv den Arm, um den Schlag mit dem Eisenhammer abzuwehren.
Der Hammer zischte knapp an seinem Ohr vorbei, dann packte er Lees Handgelenk und schleuderte den Amerikaner gegen das Schott und boxte ihn in den Magen. Lee holte jedoch noch einmal aus und traf dieses Mal Hawkwoods Rippen. Er wurde gegen die Kurbel der Schiffsschraube geworfen. Lee watete mit hoch erhobenem Hammer hasserfüllt auf ihn zu.
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