Hawkwood wollte sich empört aufrichten, doch der rasende Schmerz in seiner Schulter hinderte ihn daran. Sofort ließ er sich wieder in die Kissen sinken. »Der Prinz war an Bord?«, fragte er dann fassungslos.
James Read schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Ersatzmann. Ein Köder aus Fleisch und Blut, wenn man so will, den man aus der Ferne mit dem Prinzen verwechseln konnte. Jemand mit der richtigen Figur.«
»Und ich habe den Mann gekannt?«
»Na ja, nicht gerade gekannt«, sagte der Richter lächelnd.
»Da hat der Sergeant etwas übertrieben. Es sollte wohl ein Scherz sein.« Nach einer Pause fügte James Read hinzu: »Aber zu seiner Mutter hatten Sie flüchtig näheren Kontakt. Eli Gant hat diese Rolle gespielt.«
»Gant!«, rief Hawkwood entgeistert und zuckte wieder vor Schmerz zusammen. Diese Enthüllungen trugen gewiss nicht zu seiner schnellen Genesung bei.
»Mir ist eingefallen, dass die Witwe und ihr Sohn auf einem der Transportschiffe in Dudman’s Yark darauf warteten, zur Verbüßung ihrer Strafe mit Schicksalsgefährten in die Kolonien gebracht zu werden. Wir haben der Witwe nicht verraten, wofür wir ihren Sohn brauchen, als wir ihn abholen ließen. Eli war von der Idee begeistert. Das Kostüm hat ihm gefallen.« In ernstem Ton fügte der Richter hinzu: »Ich werde veranlassen, dass er darin beerdigt wird. Das scheint mir angemessen zu sein.«
Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer.
»Warum dieses ganze Täuschungsmanöver?«, wollte Hawkwood schließlich wissen. »Warum haben Sie keine Abfangnetze ausgelegt? Warum haben Sie Lee nicht einfach aufgehalten? Warum wollten Sie, dass er das Schiff zerstört?«
Als der Richter verlegen schwieg, merkte Hawkwood, dass er einen wunden Punkt berührt hatte.
»Weil wir herausfinden mussten, ob das Unterseeboot funktioniert und der Torpedo tatsächlich sein Ziel trifft.«
Trotz des warmen Sonnenlichts, das durch die Fenster leuchtete, überlief Hawkwood ein eiskalter Schauder.
James Read spürte, was in Hawkwood vor sich ging. Er warf Jago einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sie brauchen jetzt Ruhe«, sagte er, »damit Sie wieder zu Kräften kommen. Wir treffen uns bald wieder und reden dann weiter. Alles wird sich aufklären. Begleiten Sie mich, Sergeant?«
Jago nickte, beugte sich jedoch kurz über Hawkwood und flüsterte ihm ins Ohr: »Habe ich’s Ihnen nicht gesagt, Cap’n. Diese verdammten Generäle. Nie rücken sie mit der ganzen Wahrheit raus. Und dann steckt man in der Scheiße. Ganz gleich, was passiert ist: Es kommt nur auf Sie und auf mich an.«
Dann berührte er leicht Hawkwoods Arm und folgte dem Obersten Richter nach draußen.
Ezra Twigg blickte auf, als Hawkwood ins Vorzimmer trat.
»Oh, Mr. Hawkwood! Was für eine Freude, Sie wieder zu sehen, Sir! Und Sie scheinen ja wieder in Form zu sein, wenn ich das so formulieren darf.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, Ezra. Er ist doch da, oder?«
Der Sekretär deutete mit dem Kopf zur Tür des Amtszimmers. »Ja. Und der Richter erwartet Sie schon.«
Als Hawkwood das Büro des Richters betrat, fand er drei Männer in ein Gespräch vertieft von James Read, Colonel William Congreve und ein Fremder. Die drei verstummten sofort.
Dann stand der Oberste Richter von seinem Schreibtisch auf und ging auf Hawkwood zu.
»Da sind Sie ja endlich, Hawkwood«, sagte er.
Der Colonel begrüßte ihn lächelnd. »Captain! Wie schön, Sie wieder zu sehen! Haben Sie sich von Ihren Abenteuern gut erholt? Ja? Ausgezeichnet!«
»Colonel«, sagte Hawkwood und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand.
Der Fremde musterte Hawkwood neugierig. Er war groß, hatte ein kräftiges, sonnengebräuntes Gesicht und durchdringende blaue Augen.
»Officer Hawkwood, Captain Johnstone«, stellte James Read die beiden einander vor.
Johnstone nickte nur.
Captain? , dachte Hawkwood.
Da trat der Richter zur Tür und sagte: »Danke, Captain Johnstone. Das wär’s für den Augenblick. Der Colonel wird sich zu gegebener Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen. Mein Sekretär geleitet Sie nach draußen.« James Read öffnete die Tür und rief: »Mr. Twigg?«
Johnstone schien sich an der abrupten Verabschiedung nicht zu stören. Wortlos folgte er Ezra Twigg ins Vorzimmer.
Der Colonel hatte zwar ein freundliches Gesicht gemacht, aber Hawkwood konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Congreve nicht viel von Johnstone hielt.
Der Richter kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Der Colonel nahm auf einem der Stühle Platz. James Read bat Hawkwood nicht, sich ebenfalls zu setzen. Er schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich sagte er: »Wir haben endlich herausgefunden, wen Lee mit ›höher gestellte Freunde‹ gemeint hat.«
Während Hawkwood auf eine Fortsetzung des Richters wartete, rutschte der Colonel unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Es war Admiral Dalryde.«
Dalryde! Ein Mitglied des Admiralstabs! Kein Wunder, dass Congreve so unbehaglich zumute ist, dachte Hawkwood.
»Wie sich herausstellte, hatte der Admiral hohe Spielschulden«, ergriff Congreve jetzt das Wort. »Er schuldete vor allem White’s große Summen. Durch die immensen Spielverluste ist Dalryde einem anderen Mitglied des Clubs aufgefallen.«
»Lord Mandrake?«, riet Hawkwood aufs Geratewohl.
James Read nickte. »Ja. Und Mandrake hat ihn mit dieser Frau bekannt gemacht. Der Admiral hat Mandrake erzählt, dass Sie mit diesem Fall betraut wurden. Am Abend des Balls war er in Mandrakes Stadtpalais.«
Der Schatten zwischen den Büschen, dachte Hawkwood. Wie konnte ich nur auf diese perfide Intrige reinfallen.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Hawkwood. Diese Frau ist skrupellos und hinterlistig. Eine Kurtisane, mit allen Wassern gewaschen. Sie weiß ihren Charme einzusetzen. Admiral Dalryde war ihr verfallen. Außerdem versprach sie ihm die Tilgung seiner Schulden, wenn er Dinge preisgibt, die der Geheimhaltung unterliegen. Er war es, der sie informierte, mit welcher Kutsche der Kurier nach London fährt, wann der Stapellauf der Thetis in Deptford stattfindet und welche Fortschritte wir mit unseren Ermittlungen bei der Aufklärung des Überfalls auf die Postkutsche und dem Mord an Officer Warlock machen. Letzteres war natürlich von besonderem Interesse, weil dieser Mord, in Verbindung mit den Skizzen, Hinweise auf das Unterseeboot brachte.«
»Dieser Bastard hat uns alle reingelegt!«, schimpfte der Colonel und schlug mit der Faust auf sein Knie. Dann stand er auf und marschierte rastlos im Zimmer auf und ab.
»Er ist doch verhaftet worden, oder?«, fragte Hawkwood.
James Read nickte.
»Also wird er des Hochverrats angeklagt«, sagte Hawkwood.
James Read schüttelte den Kopf.
»Warum nicht, verdammt noch mal?«
»Weil uns der Mistkerl zuvorgekommen ist«, fauchte der Colonel.
Hawkwood sah den Richter fragend an.
»Der Admiral hat sich heute Morgen in seiner Zelle erhängt.«
»Oh, verdammt! Und was ist mit Mandrake? Sagen Sie bloß nicht, dass auch er dem Henker entwischt ist.«
James Read legte seine Hände flach auf den Schreibtisch und stand auf. »Mylord Mandrake ist in Liverpool an Bord eines Schiffs gegangen und befindet sich auf dem Weg nach Amerika. Ich furchte, Runner Lightfoot wird mit leeren Händen zurückkommen.«
Hawkwood traute seinen Ohren nicht. Und er musste noch eine Frage stellen, die offen im Raum stand: »Und was ist mit dieser Frau?«
»Oh, sie sitzt im Gefängnis und wird ständig überwacht. Bevor Dalryde sich erhängte, haben wir ihn verhört. Er war so freundlich, uns Lees Fluchtpläne zu verraten. Auf der dänischen Brigg haben wir sie festgenommen. Die Mannschaft wurde aufs Gefangenenschiff gebracht.«
»Also«, hakte Hawkwood ungeduldig nach. »Wer, zum Teufel, ist sie?«
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