Jago und der Corporal hatten Hawkwood in Kommissar Drydens Haus getragen. Der Kommissar hatte seinen Arzt gebeten, Hawkwood zu untersuchen und zu verbinden.
»Er ist ein ausgezeichneter Mediziner«, hatte Dryden dem Richter versichert, »und hat unter Collingwood auf der Dreadnought gedient.«
Als auch Dryden weg war, betrachtete James Read seinen Runner. Er lächelte – was er nur selten tat – und sagte: »Wie schön, Sie wieder in unserer Mitte zu sehen.«
Hawkwood sah sich in dem lichtdurchfluteten Zimmer um. Das Dienstmädchen hatte die Vorhänge zuziehen wollen, aber er hatte gebeten, es nicht zu tun. Er sehnte sich nach Sonne und Wärme, seit er mit knapper Not dem kalten nassen Grab entkommen war. Die letzten Minuten in der Narwal waren die schrecklichsten in seinem Leben gewesen. Den Kopf in dem überfluteten Turm schon unter Wasser, hatte er fast aufgegeben, bis ihm plötzlich Lees Worte eingefallen waren: Dann halten wir die Luft an und beten.
Also hatte Hawkwood in dem stockfinsteren Turm die Luft angehalten und gebetet, dass er die Luke öffnen könne, bevor er ertrinken würde. Er hatte verzweifelt mit einer Hand nach dem Riegel getastet, während ihn die eisige Kälte fast lähmte. Im letzten Augenblick hatte der Riegel nachgegeben und er sich durch die Luke zwängen können, Luft und Licht entgegen.
Als Hawkwood nicht auf James Reads freundliche Worte reagierte, machte sich der Richter Sorgen und fragte: »Haben Sie Schmerzen?«
»Ich war mit meinen Gedanken bei Lee«, sagte Hawkwood. »Ich konnte ihn nicht daran hindern, die Thetis zu zerstören.«
James Read schwieg und schaute zu Jago, der den Blick erwiderte.
»Was ist denn?«, fragte Hawkwood irritiert.
»Hat er nicht«, sagte Jago.
»Was hat er nicht?«
»Er hat die Thetis nicht in die Luft gesprengt«, sagte James Read.
»Natürlich hat er es getan«, widersprach Hawkwood. »Ich habe doch die Detonation gehört. Und ich habe das Wrack gesehen, als Jago mich ans Ufer brachte.«
Der Oberste Richter schüttelte den Kopf. »Nein. Lee hat ein Schiff in Trümmer gelegt, aber nicht das Schiff.«
Hawkwood zweifelte an seinem Verstand. Doch Jago grinste breit. Er starrte die beiden Männer entgeistert an.
»Sie haben die Schiffe ausgetauscht, Cap’n«, sagte Jago.
»Diese durchtriebenen Mistkerle haben die Schiffe ausgetauscht.«
Hawkwood schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, war Jago noch immer da. Er grinste noch immer.
Jago sah den Obersten Richter an. »Also? Erzählen Sie’s ihm, oder soll ich das tun?«
»Dieses Vergnügen will ich Ihnen nicht nehmen, Sergeant.«
James Read lächelte.
»Na, dann rede endlich!«, drängte Hawkwood.
»Also gut«, willigte Jago ein. »Es war nicht die Thetis, die Lee in die Luft gejagt hat, sondern ein abgetakeltes Schiff.«
»Ein was?«
»Ein altes, ausgemustertes Schiff mit einem Mastkran. Es wird auch Arbeitspferd genannt. Keiner kennt mehr seinen Namen, weil es wahrscheinlich schon vor unserer Geburt im Einsatz
war … Na ja, bevor Sie geboren wurden, auf jeden Fall. Also, wo war ich stehen geblieben? Äh, ja … so haben sie’s gemacht.«
»Die Kunst der Täuschung, Hawkwood. Etwas verbergen zu können, was man deutlich sieht …« Der Oberste Richter schritt zum Fenster und blickte auf die Werft hinaus, wo die Arbeit nach diesem aufregenden Morgen wieder ihren normalen Lauf nahm. »Das war die einzig logische Lösung unseres Problems, weil wir nicht sicher waren, ob es Ihnen gelingen würde, Lee aufzuhalten. Also beschlossen wir, ihm sozusagen einen Lockvogel vor die Nase zu setzen. Und ausschließlich dieses abgetakelte Schiff eignete sich dafür. Unser Hauptproblem bestand darin, das Äußere so herzurichten, dass Lee es für unser neues Kriegsschiff hielt. Zum Glück waren genügend Werftarbeiter und ausreichend Farbe vorhanden. Ein Team hat den Rumpf angestrichen, und ein Maler hat den Namen Thetis ans Heck gepinselt. Da die Thetis nur mit einem Notmast ausgestattet war, also ohne Takelage flussabwärts segeln sollte, mussten wir am Mastkran nur ein Segel hissen, Flaggen und Wimpel an die Relinge zurren, die Standarte des Prinzregenten präsentieren, die Mannschaft einkleiden … Bei eingehender Betrachtung wäre die Tarnung natürlich aufgeflogen, aber Lee hatte von seinem Unterseeboot aus nur eine sehr eingeschränkte Sicht.«
»Großer Gott!«, stöhnte Hawkwood.
»Unser größter Feind war die Zeit«, fuhr der Richter fort und wandte sich vom Fenster ab. »Wir konnten nur vermuten, dass Lee die Flut frühmorgens für seinen Sabotageakt nutzen würde, falls Ihr Versuch, ihn aufzuhalten, fehlschlagen würde. Aber wir haben es sogar geschafft, in letzter Minute die Mannschaft an Bord zu schicken.«
»Die Farbe war noch feucht«, sagte Jago. »Das hat mir die Augen geöffnet …« Er verstummte, als er Hawkwoods Gesicht sah.
»Sie haben das Schiff auch bemannt? « , fragte Hawkwood mit ausdrucksloser Stimme.
»Das war unerlässlich«, erwiderte James Read. »Die Tarnung musste möglichst echt wirken.«
»Männer sind gestorben«, erwähnte Hawkwood.
»Es gab vier Tote und sieben Verletzte«, sagte der Richter ernst.
»Und kein einziger Brite ist darunter«, warf Jago ein. »Bis auf einen«, fügte er dann hinzu.
Hawkwood sah den Sergeanten an.
»Sie haben französische Kriegsgefangene in ausrangierte Uniformen aus Werftbeständen gesteckt. Das ist mir als Erstes aufgefallen: wie schlampig die Offiziere gekleidet waren. Eine Schande für die Nation. Kein britischer Offizier, der etwas auf sich hält, würde sein Schiff betreten, als käme er gerade aus dem Armenhaus. Das kam mir merkwürdig vor. Und dass die Matrosen sich auf Französisch beschimpft haben.«
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte James Read leise, als er merkte, wie entsetzt Hawkwood war. »Dass es Konventionen für die Behandlung von Kriegsgefangenen gibt. Stimmt. Aber die Gefangenen, die an Bord der Thetis ums Leben gekommen sind, verdienten kein Mitleid. Ihr Schicksal war bereits besiegelt. Wären sie nicht bei der Explosion getötet worden, hätte man sie gehängt.«
Hawkwood starrte den Obersten Richter noch immer fassungslos an.
»Zwei der toten Gefangenen waren die Rädelsführer einer Meuterei auf der Gryphon. Vor vier Tagen haben zwei Dutzend Gefangene unter der Führung eines Lieutenants Duvert einen Aufruhr angezettelt, dabei zwei Marinesoldaten ermordet und sie nackt vor die Schießscharten gehängt. Nur der Tapferkeit des Kommandeurs Captain Hawkins und seiner Männer ist es zu verdanken, dass die Revolte beendet und eine Katastrophe verhindert werden konnte.
Duvert und seine Gefolgsleute waren bereits zum Tode durch den Strang verurteilt, ehe wir von Lees Plänen erfuhren. Mir wird es keine schlaflosen Nächte bereiten, diese Verbrecher etwas früher vom Leben in den Tod befördert zu haben. Duvert und seine Männer hatten das Recht auf Schutz von Kriegsgefangenen verwirkt, als sie die Leichen dieser zwei Marinesoldaten geschändet haben, das heißt, an die Schießscharten gehängt haben.« Nach einer Pause fuhr der Oberste Richter fort. »Wir haben zumindest versucht, das Gemetzel in Grenzen zu halten, indem wir diese Männer am Bug und am Heck positionierten, weil wir davon ausgingen, dass der Torpedo dort den geringsten Schaden anrichten würde. Was sich im Nachhinein allerdings als Irrtum herausstellte.«
»Du hast angedeutet, einer der Toten sei Brite gewesen«, sagte Hawkwood zu Jago.
Der Exsergeant nickte. »Und Sie kannten ihn«, sagte er mit einem Seitenblick auf James Read.
James Read schürzte die Lippen, ehe er das Wort ergriff.
»Wir mussten diese Operation mit etwas krönen, Hawkwood. Im wahrsten Sinn des Wortes. Wir hatten das Schiff, die Flaggen und die königliche Standarte. Da wir nicht wussten, wie gut Lee vom französischen Geheimdienst informiert worden war, brauchten wir etwas, das ihn davon überzeugen würde, das richtige Ziel im Visier zu haben. Wir mussten ihm den Prinzen von Wales präsentieren.«
Читать дальше