Der Friedhofsverwalter weiß einen Ausweg: »Wir haben eine CD mit dem Lied. Hier ist sie, es ist das elfte Lied.«
So sitze ich da auf einem wackeligen, hölzernen Hocker in einer ehemaligen Leichenzelle, schiele durch die Wandverkleidung und kann vom Pfarrer nur die Füße sehen. Die Trauergäste sitzen bereits, der Pfarrer scharrt mit den Füßen, und ich jongliere mit der friedhofseigenen CD. Wie war das noch mal? Die Klappe muss man festhalten, den Stecker hinten herunterdrücken und das Gerät dabei auf einer Seite anheben. Ich bräuchte unbedingt noch eine dritte Hand!
Es muss bescheuert ausgesehen haben, aber mir blieb keine andere Wahl, als mit der Nase auf die Play-Taste zu drücken.
»So nimm denn meine Hände« klingt eigentlich anders, was in erster Linie daran liegt, dass ich Lied Nummer 10 abspiele und das ist eindeutig der Hochzeitsmarsch. Vor Schreck lasse ich die schiefgehaltene Konstruktion los, die Musik verstummt schlagartig, es krächzt in den Boxen, und ich drücke schnell die Weiter-Taste. »11« steht im Display, wieder die Klappe andrücken, den Stecker hinunterdrücken und dabei das Gerät irgendwie leicht anheben. Das Andrücken der Klappe mache ich dieses Mal mit dem Knie, so habe ich eine Hand frei, um Play zu drücken. Es mag seltsam aussehen, aber mich sieht ja keiner, und endlich spielt auch das Hände-Lied.
Als das vorbei ist, hält der Pfarrer seine Ansprache, und ich nutze die kurze Zeit bis zum nächsten Titel auf der anderen CD, um mich in der Leichenzelle umzusehen. Es muss doch irgendetwas geben, was ich unter das Gerät legen kann, damit ich es nicht immer auf einer Seite anheben muss.
Ich entdecke zwei gläserne Windlichter auf der Fensterbank, befreie diese grob von den Spinnweben der letzten drei Jahrhunderte und bastele sie unter den CD-Player, wunderbar, das passt!
» … darum lasset uns jetzt Einkehr halten«, endet der erste Teil der Pfarrerrede, und das ist für mich der Moment, das erste Lied von der mitgebrachten CD abzuspielen. Klappe andrücken, Stecker runterdrücken, es klappert, die Windlichter schießen mit Schallgeschwindigkeit gegen die Wand, zerschellen dort, und es klirrt und scheppert fürchterlich. Der CD-Player kracht auf den Tisch, weil nun die Windlichter, die ihn eben noch oben hielten, ihre stützende Funktion gegen eine zerstörerische Flugbahn in Richtung Wand eingetauscht haben. Durch das Aufschlagen der hochgestellten Seite auf die Tischplatte kommt der CD-Player in Gang und spielt von der mitgebrachten CD »Die bekanntesten Märsche der Welt« nicht den Trauermarsch, den sich die Angehörigen gewünscht haben, sondern »Hail to the Chief«, die Melodie, mit der für gewöhnlich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in der Öffentlichkeit begrüßt wird.
Ich füge mich in mein Schicksal, lasse die Präsidentenhymne eine Weile laufen und blende sie dann mit dem Lautstärkeregler aus. Der Pfarrer fährt in seiner Ansprache fort, und ich wechsle die CD. Auf dem Programm steht das »Ave-Maria«, gesungen von Ivan Rebroff. Von der CD-Hülle grinst mich der inzwischen längst verstorbene Russe aus Berlin, der 96 Oktaven alleine schon mit dem Bauchnabel intonieren konnte, grinsend unter seiner überdimensionalen Fellmütze als Ersatz für eigenes Haupthaar an.
Während ich noch überlege, ob da was dran ist, dass mir die Gemüsefrau erzählt hat, der sei in Wirklichkeit schwul gewesen, und ich mich der Frage zuwende, ob mich oder sonstwen das überhaupt etwas angeht, merke ich, dass es in der Trauerhalle ruhig geworden ist. Ui, der Pfarrer ist fertig! Also schnell die Klappe andrücken, den Stecker runterdrücken und das Gerät anheben. Knie an der Klappe und Nase auf die Taste geht zusammen nicht, ich bin zu fett, zu groß, zu unbeweglich! Dennoch schaffe ich es, mit dem Daumen auf Play zu drücken und der Russenimitator singt tatsächlich das »Ave-Maria«! Na endlich! Wenigstens ein Lied klappt!
Ich muss noch ein Lied spielen, ganz am Ende, wenn der Sarg rausgefahren wird. Also schneller CD-Wechsel. Welche Nummer war das noch mal? Ich will wenigstens jetzt den Trauermarsch abspielen. Ach ja, Nummer acht!
Die Totenglocke beginnt dünn zu bimmeln, es rumpelt in der Halle, die Sargträger sind also da. Genau der richtige Moment um … na, man ahnt es schon … die Klappe anzudrücken, den Stecker nach unten zu drücken, das Gerät leicht anzuheben und auf Play zu drücken. Ja und Nummer acht war natürlich exakt die Nummer, die ich vorhin schon mal im Display gesehen habe, und so kommt es, dass an diesem Tag, an dem alles schiefgelaufen ist, nun endlich … zum zweiten Mal die Präsidentenhymne »Hail to the Chief« gespielt wird.
Der Pfarrer wirft mir nach der Beerdigung einen Blick zu, der töten könnte, ich bin so was von nassgeschwitzt, und der Friedhofverwalter grinst mich an, und seine Blicke sagen: »Tja, ich hab’s dir doch gleich gesagt!«
Mir ist danach, irgendwem in den Arsch zu treten, einen unschuldigen Baum zu fällen oder eine Sau zu schlachten, irgendetwas Archaisches muss ich heute unbedingt noch tun!
Da pirscht sich von halbrechts hinten der Sohn des Verstorbenen an mich heran, der Sohn, der mir die CDs gegeben hat und sagt über meine Schulter hinweg leise: »Nur mal so nebenbei: Wenn meine Mutter Sie fragt, also wegen der Musik, meine ich, dann sagen Sie bitte, ich hätte die ausgesucht, das hat ihr nämlich so gut gefallen.«
Und schon steuert die Witwe, eben vom Grab zurückgekehrt, auf mich zu und schüttelt mir mit Tränen in den Augen die Hand: »Mein Mann hat ja die Kennedy-Musik bekommen, ach was schön, so schöööön!«
Tja, man muss halt ein Profi sein, oder?
Die folgende Geschichte erzähle ich immer denjenigen, die meinen, unser Beruf sei vielleicht langweilig, und wir hätten es im Grunde den ganzen Tag nur mit toten alten Leuten zu tun. Die Toten beschäftigen uns dabei in Wirklichkeit nur eine recht kurze Zeit, am meisten haben wir mit den Hinterbliebenen zu tun, und da wir Sterbefälle nicht nur nach Schema F abwickeln, sondern stets auch ein offenes Ohr haben, erleben wir so manches Schicksal mit.
Beat. Zunächst glaube ich an einen Schreibfehler, doch dann fällt mir ein, dass die Eidgenossen ja die Angewohnheit haben, ihren männlichen Nachkommen etwas andere Namen zu geben als wir.
»War Ihr Mann Schweizer?«, frage ich deshalb die junge Frau, die da vor mir sitzt. Ich will sie nicht so anstarren, aber es fällt mir schwer, den Blick von ihr zu wenden. So eine schöne Frau habe ich selten gesehen. Blond ist ja sonst nicht so meine Farbe, aber sie ist eine von den Blonden, die keine andere Haarfarbe haben dürften. Ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht, hohe Wangenknochen und schmale, aber ausdrucksvolle Lippen, zwei kleine Grübchen auf den Wangen und Augen so blau wie das Mittelmeer an einem schönen Sonnentag.
»Nein«, sagt sie, und ihre Stimme klingt einfach phantastisch. »Er ist Deutscher, ich glaube, der Opa war Schweizer.«
Die junge Frau heißt Daniela, ist gerade einmal 29 Jahre alt und angestellte Apothekerin. Ihr Mann Beat ist gestern Abend gestorben, er hat sich nach dem Abendessen in seinen neuen Audi gesetzt, wollte es, wie er sagte »mal richtig krachen lassen«, womit er meinte, dass er versuchen wollte, eine verkehrsarme Stelle auf der Autobahn zu erwischen, um herauszufinden, wie schnell sein Auto fährt.
Das mit dem Krachenlassen hat geklappt.
Als unsere Männer an den Unfallort kamen, war es schon nach 22 Uhr. Die Feuerwehr hat Teile des Daches vom Audi abschneiden müssen und mit Hydraulikstempeln die Karosserie auseinandergedrückt. Das viele Blut an Airbag, Armaturen und Sitz zeigt, dass Schlimmes zu erwarten stand.
Die Retter und der Notarzt müssen vor Ort noch fast eine Stunde um das Leben des Mannes gekämpft haben. Es sei aber ein absehbarer und aussichtsloser Kampf gewesen, den man zwar hat kämpfen müssen, den man aber nicht gewinnen konnte.
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