Fix und fertig sind die Rettungskräfte, die Polizisten haben versteinerte Gesichter, nur einer überspielt den Schrecken mit Schnoddrigkeit und weist unseren Fahrern mit einer Taschenlampe den Weg.
Der Audi ist als solcher gar nicht mehr zu erkennen, und nicht weit davon entfernt steht der Rettungswagen, in dem der Verstorbene in unseren Transportsarg umgeladen werden kann.
»Also hundertvierzig hat der draufgehabt, eher mehr, dann ist der links auf die Begrenzungslinie gekommen, muss hier drüben an die Leitplanke gekommen sein, hat dann einen Drall nach rechts gekriegt und ist quer über die drei Spuren da hinten erst vor die Schilderbrücke und dann vor den Pfeiler«, erklärt der Schnoddrige und schreibt sich den Namen unseres Institutes in sein Notizbuch.
Sandy schlägt im wahrsten Sinne des Wortes die Hände über dem Kopf zusammen, und wir stehen da und wissen, dass viel Arbeit auf uns zukommt. »Hoffentlich will den keiner mehr sehen«, sagt sie, und ich stimme ihr zu. »Machen wir ihn erst mal sauber«, sage ich, und wir beginnen, den Leichnam zu waschen, erst dann kann man sehen, wie schlimm es wirklich ist.
Es ist wirklich schlimm.
»Hören wir mal, was morgen die Angehörigen sagen, und dann sehen wir weiter«, sage ich, und wir bedecken den Toten mit einem weißen Tuch und schieben ihn in die Kühlkammer.
Die Angehörigen? Es gibt nur Daniela und einen Vater, und ich bin froh, dass sie uns den Auftrag erteilt. Die Pietät Eichenlaub, dieses wenig geliebte Großunternehmen mit seinen vielen Filialen, zieht nämlich seit einigen Monaten durch die Altenheime und Kirchengemeinden und macht sogenannte Vorsorgeberatungen. Das sind reine Reklameveranstaltungen, und die haben eben nicht nur zum Ziel, möglichst viele Bestattungsvorsorgeverträge abzuschließen, sondern auch aktuell Sterbefälle zu bekommen. Wir merken das ein bisschen, und so ist es jetzt schon zweimal vorgekommen, dass wir zwar einen Verstorbenen vom Unfallort abgeholt haben, dann aber am nächsten Tag die Angehörigen zur Pietät Eichenlaub gelaufen sind, weil die derzeit auch mit einem »Komplettpreis von nur Euro 599,-« werben.
Es hat zwar noch keiner so eine billige Bestattung dort bekommen, aber zunächst glauben die Leute das ja.
Aber Daniela bleibt bei uns, das ist gut so, und umso mehr will ich mich bemühen, alles besonders gut zu machen, damit sie zufrieden ist.
»Wir haben gerade erst unser Haus bezogen, und für das kommende Jahr hatten wir das erste Kind geplant. Bis dahin wären wir aus dem Gröbsten raus gewesen. Und jetzt das!«
Sie weint und tut das auf die vornehme Art, mehr so in sich hinein, fast schon verschämt.
»Weinen Sie ruhig, das tut gut«, sage ich und gehe einfach mal nach nebenan, lasse ihr die Zeit, lasse sie ein bisschen alleine.
Nach kurzer Zeit komme ich wieder, schaue sie nur an, und sie putzt sich nochmals die Nase. »Ich kann das alles gar nicht glauben, der ist nicht tot, der kann doch gar nicht tot sein, der kann mich doch jetzt nicht alleine lassen …«
Beats Vater war am Morgen mit einem Polizeibeamten da gewesen, und Sandy hatte den Verstorbenen notdürftig hergerichtet. Der Vater hatte nur stumm genickt und war sogleich wieder verschwunden, der Polizist gab uns den Namen des zuständigen Staatsanwaltes. Der aber wollte den Fall schnell vom Tisch haben; es ist nur ein Unfall, der Mann kann bestattet werden.
Seitdem arbeitet Sandy an dem jungen Mann, und das ist auch gut so, denn unvermittelt richtet sich Daniela auf und sagt: »Ich muss ihn sehen!«
Ich weiß, was in ihr vorgeht, sie kann es einfach nicht glauben, sieht die Welt derzeit wie durch Watte und kommt sich vor, als spiele sie eine Rolle in einem Film, ohne das Drehbuch zu kennen.
So ist das nämlich oft, wenn jemand stirbt. Bestatter, Polizei, Friedhöfe, alle nehmen einem alles aus der Hand, es läuft nach einem festgelegten Schema ab, von dessen Stationen man keine Ahnung hat, es läuft sozusagen an einem vorbei, und man hat nicht die geringste Chance, daran teilzuhaben. Einmal darf man vielleicht kurz in der Zelle auf dem Friedhof einen Blick auf einen Leichnam werfen, der einmal ein Geliebter, ein Mann, ein Vater oder ein guter Freund war. Der Bestatter wird sein Bestes gegeben haben, der Tote sieht anständig aus, aber er sieht nicht aus wie der Mensch, den man gekannt hat, fremd, anders, unecht irgendwie; und das bestärkt einen dann noch darin, dass das alles gar nicht wahr sein kann. Es fehlt auch die Zeit, alles muss schnell gehen, man kommt gar nicht zur Ruhe, bekommt gar nicht die Gelegenheit, ganz langsam loslassen zu können, Abschied zu nehmen und seinen Frieden mit der beschissenen Situation zu machen.
»Kommen Sie!«, sage ich, biete ihr meinen Arm an und führe sie zum Aufzug. Wir fahren hinunter. Ich habe extra nicht unten angerufen, habe den Verstorbenen nicht in eine Aufbahrungszelle legen lassen, ich möchte, dass Daniela mit dem Tod konfrontiert wird. Dann kann der Schrecken sich lösen und dann können wir Schritt für Schritt all das ermöglichen, was nötig ist, um ihr den Abschied wenigstens ein bisschen zu erleichtern, ja um diesen Abschied überhaupt erst zu ermöglichen.
Unten angekommen, stehen wir im großen Sarglager, ich führe die junge Frau zu den Särgen, zeige ihr mal, was es da so gibt, nicht im Detail, mir geht es nur darum, dass sie versteht, dass wir in der Realität sind. Dann geht es an den Regalen mit den Decken und Hemden vorbei in Richtung der Kühlkammern. Manni schließt die Türen, als er uns kommen sieht, und stößt einen leisen Pfiff aus. So ist Sandy vorgewarnt, und als wir um die Ecke biegen, hake ich Daniela unter und führe sie in den gekachelten Raum mit den Edelstahlmöbeln, in dem Sandy gerade noch an Beat gearbeitet hat. Nackt, nur mit einem grünen Tuch bis unters Kinn bedeckt, liegt er da. Die Augen sind geschlossen, und von den schweren Gesichtsverletzungen ist nichts mehr zu sehen. Nein, er liegt nicht da, wie man es von den Leichen aus dem Krimi kennt. Das sind lebende Menschen, die nur so tun, als ob sie tot seien. Ein richtiger Toter sieht anders aus, da sieht man, dass da kein Leben mehr in ihm ist.
Daniela bleibt kurz stehen, sagt: »Beat!«, dann schlägt sie die Hände vor das Gesicht, und ich habe das Gefühl, als ob ihre Knie nachgeben. Manni ist sofort zur Stelle, wir stützen sie, aber es hat nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, dann steht sie wieder fest, geht einen Schritt vor, schaut, geht noch einen Schritt vor und streckt ihre Hand aus, so als ob sie ihren Mann berühren wolle, doch es fehlt ein Zentimeter.
Mit diesem Zentimeter Abstand lässt sie ihre Hand über sein ganzes Gesicht gleiten, dann zieht sie sie zurück, schaut Sandy an und meint: »Ist das nicht ein hübscher Mann? Was meinen Sie?«
Sandy nickt: »Ja, ein klasse Typ.«
Unvermittelt dreht Daniela sich um, und wir gehen wieder, fahren nach oben und sitzen wenig später wieder im Beratungsraum.
»Wie geht es weiter?«, will sie wissen, und ich sage ihr, dass es genau so weitergeht, wie sie es sich wünscht.
»Ich habe doch keine Ahnung«, sagt sie, »ich war als Kind einmal auf der Beerdigung meiner Oma und weiß doch gar nicht, was man da so alles macht.«
Ich schlage ihr vor, dass wir einfach mal einen Sarg aussuchen und dann gemeinsam überlegen, wie der grobe zeitliche Ablauf sein soll. Gerne möchte ich nämlich, dass Daniela nach Hause geht und in aller Ruhe überlegen kann, morgen werden wir dann gemeinsam ein Abschiednehmen erarbeiten.
Sie entscheidet sich spontan für einen großen Sarg in schwarzem Klavierlack. Der sei genauso glänzend und schwarz wie der Audi.
Ein Totenhemd will sie auf keinen Fall. Ich sage: »Dann suchen Sie für ihn aus, was Sie für richtig halten. Bringen Sie morgen einfach alles mit.«
»Soll ich das in einen Koffer tun?«, fragt sie, und ich nicke: »Ja, nehmen Sie einen kleinen Koffer und packen Sie den für Beat, tun Sie da alles rein, was er mitnehmen soll.«
Читать дальше