Ich ließ ihn noch eine Weile in Ruhe, dann erhob ich mich und sagte:»Komm, Schatz, Kerstin macht sich sicher große Sorgen.«
Ich reichte ihm die Hand, und er ließ sich aus dem Sessel herausziehen. Wir traten zurück in den Stollengang und bewegten uns auf die zunehmende Scheibe des Ausgangs zu. Sodann standen wir in dem steinernen Bogen und schauten hinaus aufs Land.
Was hatte ich erwartet? Eine andere Welt, nur weil mir meine tote Schwester im Traum begegnet war?
Dann aber …
Ich formte mit der flachen Hand ein Vordach entlang meiner Augenbrauen und schaute hinüber zur …
Ich sah sie, ich sah die Sonnen.
Nicht eine Sonne, sondern drei . Eine große und zwei kleine.
Das war doch … Stimmt, ich erinnerte mich, von solchen Erscheinungen einmal gelesen zu haben. Einem optischen Phänomen, bei dem das Licht auf horizontal in der Luft stehende Eisplättchen traf und auf der einen Seite der Eisprismen eintrat und an der übernächsten Seite wieder aus. Daraus resultierten die Lichtkörper rechter oder linker Nebensonnen oder auch beidseitiger, wobei sich selbige stets auf gleicher Höhe mit der tatsächlichen Sonne und in einem Abstand von etwa zweiundzwanzig Grad befanden. Es existierte zwar eine noch seltenere Hunderzwanzig-Grad-Spezialversion …
Nun, das hier war eine Zweiundzwanzigerfassung, allerdings erstaunlich, daß etwas Derartiges in unseren Breitengraden geschah. Daß polare Eiskristalle von ebenmäßigem Wuchs in den Tiroler August gerieten. Als schlüpften Pinguine aus Hühnereiern.
Drei Sonnen sah ich am Himmel steh ’ n.
Ein altes Schubertlied. Schubert war auch so etwas, was ich von Little Face hatte.
Im Lied von den Nebensonnen erwähnt der Held seine eigenen drei Sonnen, von denen die besten zwei verlorengingen. Nun sehnt er sich nach dem Dunkel, das auch das Abhandenkommen des dritten Sterns mit sich brächte.
Im Dunkel wird mir wohler sein.
Doch so rasch würde es bei uns nicht finster werden. Und auch der Tod, wie ich in dieser Nacht erfahren hatte, bescherte einem nicht das ewige Dunkel. Nicht, solange geträumt wurde.
Simon hatte sinnvollerweise wieder seine Skibrille aufgesetzt, blickte hinüber zu der himmlischen Dreifaltigkeit und rief:»Kladoor fa! Kladoor fa!«
«Ja, kladoor fa!«gab ich zurück, meinerseits mit Sonnenbrille das Phänomen bestaunend.
Doch lange hielt das» Wunder «der drei Sonnen nicht an. Die beidseitigen Haloerscheinungen lösten sich im warmen Strahl jener Quelle aus, die sie verursacht hatte. Später würde ich feststellen, daß kein Mensch von den drei Sonnen sprach. Als wäre dies niemals geschehen, als hätte ich mir das — in eine Schubertsche Wahnvorstellung geratend — bloß eingebildet. Wäre da nicht Simon gewesen, der ein» Kladoor fa!«von sich gegeben hatte. (Aber das wäre den anderen so erschienen, als berichte jemand von einer Ufosichtung, um dann als Beweis anzuführen, sein Hund sei auch dabeigewesen.)
Wir machten uns auf, um hinunter zur Hütte zu gelangen. Auf halbem Wege kam uns Kerstin entgegen, die von drei Männern der Bergrettung begleitet wurde. Dieselben hatten bereits in der Nacht, mitten in einem überraschend aufgezogenen Sturm, der an mir und Simon völlig unbemerkt vorbeigegangen war, versucht gehabt, zum Bergwerk hochzugelangen, hatten aber umkehren müssen, um nicht vom Berg heruntergefegt zu werden.
Simon und ich schlossen Kerstin in die Arme. Sie zitterte. Ihr Gesicht brannte von Tränen. Aus ihrem trockenen Mund drang eine ungewohnt schwache Stimme:»Ich wußte doch nicht, wo ihr seid.«
«Im Bergwerk«, sagte ich. Und konnte nicht anders, als zu meinen:»So gesehen, hat uns dieser Naziwahnsinn also gerettet.«
«Ohne den wärt ihr doch gar nicht hochmarschiert«, entgegnete Kerstin. Ihre Stimme klang jetzt schon wieder deutlich stärker.
Der Notarzt unter den Bergrettern stellte nun unsere absolute Unversehrtheit fest. Wobei zu meiner Überraschung keiner von den dreien mir eine Predigt, eine» Bergpredigt«, hielt und mir vorwarf, mich und das Kind und letztendlich auch die Retter selbst in Gefahr gebracht zu haben.
Dies bekam ich dann später zu hören, als wir die Hütte erreichten, wo noch weitere Leute der Bergrettung und ebenso die Gäste zusammengekommen waren. So groß die Freude war, uns wohlauf zu sehen, und so freundlich die Blicke, die Simon empfing, so streng fielen jene aus, die mir, dem Vater und Erwachsenen und Erziehungsberechtigten, galten. Ich verspürte den Impuls, davon zu berichten, wie mir Simon quasi davongelaufen war, zuerst den Berg hoch zur Scharte und dann tief hinein in den Bergwerkstollen.
Aber genau das geht natürlich gar nicht, daß man sich auf das eigene Kind herausredet, so berechtigt es sein mag. Nein, ich mußte alles an Schuld auf mich nehmen, zudem einige Formulare der Bergrettung unterzeichnen, was auch immer da an möglichen Kosten auf mich zukam. So ganz entschieden war das jetzt noch nicht und hing wohl vom Bericht des Einsatzleiters ab, immerhin waren sie ohne Hubschrauber und ohne Krankenhaustransport ausgekommen, und der Bergretter sagte ja auch, wenn hier jemand wirklich gelitten habe, dann Kerstin, und wenn hier etwas gutzumachen sei, dann betreffe es» die Mutter des Kindes«— das fand ich wiederum sehr schön, daß er es auf diese Weise ausdrückte. Ich versprach ihm, demnächst Fördermitglied der Tiroler Bergrettung zu werden, auch wenn es Leute gibt, die diese Einrichtung als ein reines Nebenprodukt der Tourismusindustrie ansehen, vergleichbar der Blasmusik und den Skilehrern, und finden, daß die nicht so zu jammern bräuchten wegen der vielen Einsätze und der hohen Kosten.
Kerstin freilich erzählte ich, wie mir Simon enteilt war und wie ich gezwungen gewesen war, ihm tief in den Stollen zu folgen, dort, wo der Boden mit Parkett ausgelegt war.
«Ach was?«meinte Kerstin.»Das wächst dort also, das Parkett? Oder machen so was die Stollenwichtel?«
«Du darfst mir das ruhig glauben. Simon kann …«
Ich wollte sagen, er könne das bestätigen, so wie er die Haloerscheinung hätte bestätigen können, aber ich unterließ es und meinte:»Jedenfalls war es doch eigentlich ein Glück, daß wir dort geblieben sind. Ich meine, angesichts des Unwetters in der Nacht. Von dem wir nicht das geringste bemerkt haben.«
«Vielleicht wart ihr betäubt von den Dämpfen.«
«Was für Dämpfe?«
«Na, zum Beispiel vom Parkettreiniger oder dem neuen Decklack oder so.«
«Wir gehen da noch mal zusammen hoch, und ich zeig dir das Zimmer, das sie dort oben haben.«
« Wer hat das Zimmer dort?«
Es war mitunter wirklich anstrengend, wenn Kerstin alles, was ich sagte, lektorierte. Was fand sie überhaupt an mir, wenn sie mich für einen Deppen hielt? Ich sagte nur noch:»Du wirst schon sehen.«
Dann ging ich unter die Dusche, zum Zähneputzen und Rasieren. Durchaus in der Hoffnung, Kerstin würde mir dorthin folgen, um auch mein Duschen zu lektorieren. Berechtigte Hoffnung, wie ich sagen darf. Simon war derweilen unten bei den Wirtsleuten und ließ sich ein großes Frühstück servieren. Eine Eierspeis, anderswo Rührei genannt. Ich brauchte die Portion nicht zu sehen, um zu wissen, daß sie versuchen würden, den Jungen zu mästen, so dünn, wie er wirkte, erst recht nach dieser Nacht, die er wegen seines verantwortungslosen Vaters in einem Stollen hatte zubringen müssen.
Nach dem Duschen und dem Sex und der Eierspeis machten wir zu dritt einen kleinen Spaziergang, wirklich nicht mehr. Aber das Wetter war wieder traumhaft, die Luft vom nächtlichen Sturm wie von allem Bösen und Schlechten gereinigt. Der Boden warm. Wir saßen im Gras, und Kerstin und Simon zeichneten. Beide hatten einen kleinen Block auf ihren Schenkeln und führten ihre Bleistifte übers Papier. Ja, inmitten von Grün und Braun und Blau vollführten sie schwarzweiße Notizen. Leider zwangen sie mich, etwas abseits zu sitzen. Auch weigerte sich Kerstin, mir ihre Skizzen zu zeigen. Das gehe mich nichts an. Anders Simon, der mir nachher sein Blatt präsentierte.
Читать дальше