Stellte sich freilich die Frage: Altern denn die Toten?
Andererseits war es nicht das, worüber ich unser Gespräch beginnen wollte. Immerhin war es das erste Mal seit ihrem Tod, daß mir Astri begegnete. Da sagte man nicht:»Meine Güte, bist du alt geworden.«— Soweit ich mich erinnern konnte, war sie mir nie zuvor im Traum erschienen. Etwas, was mich durchaus beschäftigt hatte, nicht in den Träumen selbst, aber hinterher.
Ich sagte:»Wir haben uns lange nicht gesehen.«
«Ja, Sixten. Früher ging nicht.«
«Bist du … wirklich … ich meine …«
«Ja, ich bin tot. Und ich bin keine Einbildung.«
«Aber das hier ist doch ein Traum, nicht wahr?«stellte ich den Ort unserer Begegnung fest, damit auch die Möglichkeit des Unwirklichen.
«Weißt du«, sagte Astri,»wenn man tot ist, und das bin ich ja, gibt es zwei Wege: Man kann sich von den Lebenden entfernen oder unter ihnen bleiben.«
«Und du hast dich also fürs Hierbleiben entschieden?«
«Das kann man sich nicht aussuchen«, erklärte Astri.»Alle, die als junge Leute oder auch nur als Mittelalte sterben, bleiben. Nur wenn du richtig alt stirbst, gehst du weg. Die Jungen aber nicht. Das ist eigentlich umgekehrt zur realen Welt, wo ja in der Regel die jungen Leute wegziehen.«
Astri ergänzte, welche Illusion es sei, sich vor seiner Zeit umzubringen, in der Hoffnung, dem Leben zu entgehen. Denn man müsse seine Zeit quasi» absitzen«, und sei es als Geist, der durch die Träume der Lebenden wandert.
Ich fragte sie:»Und wo wandert man sonst noch so als Geist?«
«Nirgends. Allein in den Träumen. Außerhalb der Träume ist es so, daß man die meiste Zeit bewußtlos ist.«
«Du meinst, auch die Toten schlafen und träumen?«
«Nein, wir treiben dahin, ohne Gedanken, ohne Bilder im Kopf. Wir geben bloß hin und wieder ein Schnaufen oder Stöhnen von uns oder knirschen mit den Zähnen. Das sind dann genau die Geräusche, von denen die Lebenden meinen, es handle sich um einen Spuk. Ist ja auch einer. Aber nicht viel mehr als ein Atemwind oder Räuspern. Wobei solche Geräusche natürlich die meiste Zeit ohnehin keiner bemerkt. Sie geschehen meistens dann, wenn die Lebenden wach sind. Sind Lebende aber wach, machen sie Lärm, und im Lärm geht vieles unter. Eben nicht nur das Rauschen des Windes oder wenn ein Ast bricht oder jemand mit einer viel zu kleinen Stimme nach Hilfe ruft. Sondern auch der Spuk. Die supergescheiten Aufgeklärten, die höhnisch anmerken, wie komisch es sei, daß es immer nur in alten, einsamen Schlössern spukt, sollten sich mal fragen, wieso .«
Spuk hin oder her, ich hatte jetzt das Bedürfnis, aufzustehen und meine alte Schwester zu umarmen. Aber es war schon so, wie das aus vielen Träumen bekannt ist. Ich klebte fest.
Immerhin, meine Zunge klebte nicht fest, auch fielen mir nicht — wie so oft — sämtliche Zähne aus dem Mund. Meine Sprache war ein ruhig dahingleitender Zug, den nichts behinderte. Ich erklärte Astri, mich einfach nicht erinnern zu können, ihr schon früher mal im Traum begegnet zu sein.
«Bist du ja auch nicht. Es ist heute wirklich das erste Mal.«
«Und warum?«
«Weil es vorher zu gefährlich war.«
«Wieso zu gefährlich?«
«Wenn man sich durch den Traum eines Lebenden bewegt, sollte es ein guter Traum sein, ein freundlicher, und wenn schon kein freundlicher, wenigstens einer, in dem nicht ständig Türen aufgehen, hinter denen maskierte Folterer stehen oder irgend jemands Vater mit heruntergelassener Hose und alte Frauen mit riesenhaften Brüsten. Nichts gegen ein Abenteuer im Traum, eine Schwierigkeit, einen Schmerz, aber viele Menschen träumen entweder einen Horror oder eine Geschmacklosigkeit. Klar, es gibt Tote, die mögen das, finden’s geil, wie da im Traum alles, was sie an Schrecken kennen, noch ein wenig absurder daherkommt. Diesmal aber ohne Strafverfolgung. — Ist dir schon mal aufgefallen, wie selten es in Träumen Polizisten gibt? Also, ich meine nicht Polizisten, die einen prügeln oder quälen, sondern einen retten.«
«Stimmt«, sagte ich, äußerte dann aber die Vermutung, daß möglicherweise wenigstens die Polizisten selbst solche Träume von» guten Polizisten «besaßen.
Astri gab ein abfälliges Geräusch von sich, als würde eine alte Dose Katzenfutter von selbst aufgehen.
Ich fragte sie … nein, ich behauptete, meine Träume könnten doch in all diesen Jahren nicht ganz so fürchterlich gewesen sein.
«Tendenziell schon«, sagte Astri,»vergiß aber nicht, nur weil ich tot bin, kann ich ja nicht in die Zukunft sehen, also auch nicht in die Zukunft eines Traums. Ich kann also nicht sagen, was hier bei dir als nächstes geschieht. Andererseits hat jeder Träumende einen Ruf, einen guten oder schlechten. Deiner war nicht gut … bis vor kurzem. Wobei sich ein neuer Ruf erst noch durchsetzen muß. Das muß ja erst mal auffallen, daß jemand begonnen hat, anders zu träumen als bislang. Bei einem Drogenbaron, der in die Sozialarbeit wechselt, braucht es schließlich auch eine Weile, bis man ihm das ernsthaft glauben kann und nicht Angst haben muß, einem perfiden Schwindel aufzusitzen, oder?«
«Du hast recht«, sagte ich, auch wenn ich den Vergleich mit einem Drogenbaron etwas hoch gegriffen fand. Dann meinte ich:»Mein Leben hat sich stark verändert, jetzt mit dem Kind.«
«Ja, ich weiß, es ist sehr, sehr gut, daß du Simon hast und er dich.«
«Nur mit dem Reden ist es ein bißchen schwierig.«
«Ach, die Lebenden überschätzen gerne die Sprache. — Ihr beide kommt doch gut zurecht, oder?«
«Woher willst du das wissen? Ich dachte, die Toten lebten allein in den Träumen der Lebenden. Und ansonsten wär’s eher so, wie die Atheisten sich das Totsein vorstellen. Vom Stöhnen und Räuspern mal abgesehen.«
Astri kam jetzt ganz nahe heran und setzte sich wie ein kleines Mädchen auf meine Schenkel. Auch wenn sie gealtert war, war sie noch immer so federleicht wie in ihrer Jugend, nicht gewichtslos, wie man sich das bei einem Geist vorstellt, sondern eben einfach so, als sei kein Gramm hinzugekommen. Wovon auch? In den wenigsten Träumen wird viel gegessen. Eher hungern die Leute und dursten im Angesicht mysteriös sich leerender Gläser. Der Traum von riesigen Schnitzeln ist bloß ein kolportierter der Lebensmittelindustrie. Die Traumwirklichkeit sieht anders aus.
Ich konnte jetzt ihren Mund sehr deutlich sehen: die schönen, vollen Lippen, die mir schon früher als viel zu sinnlich erschienen waren, so, wie die alten Bergianerinnen die langen Wimpern Simons» beklagt «hatten. Was brauchte ein asexueller Mensch solche Lippen, erst recht, wenn er tot war? Aber die Verteilung der Gaben in der Natur ist prinzipiell ungerecht und oft sinnlos.

Aus diesen sinnlos schönen Lippen drang nun der warme Wind der Worte. Astri betonte, wie sehr der Alltag eines Menschen in seine Träume übergehe. Man müsse sich das wie eine lange Reihe von Fotos vorstellen, die die Gänge eines Traums ausgestalten und eine Biographie widerspiegeln. Und zwar sehr viel genauer als diese Bücher, die da heißen Mein Leben oder Unter Wölfen oder Gesammelter Briefverkehr , oder auch nur als geheime Bekenntnisse in den Beichtstühlen der Priester oder den Praxen der Analytiker ein ätherisches Fossil bilden. Nein, auch wenn sie erst vor kurzem diesen Raum betreten habe, meinen Raum, wisse sie ganz gut Bescheid, wisse, wie sehr der Umstand, mit diesem Kind zusammen zu sein, mein Leben verändert habe. Mein Leben und daraus folgend meine Träume. Träume, durch die man nun schreiten könne, ohne daß irgendwelche Brotlaibe ihre Mäuler aufrissen und ein Gebiß scharfer, spitzer Zähne offenbarten.
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