Es war ein Schock!
Und zwar wirklich. Es wäre so gewesen, als hätte Simon mit einemmal eine Folge klar verständlicher Sätze von sich gegeben, in deutscher Sprache und äußerst gewählt. Denn was ich da sah, war eine so präzise wie stimmungsvolle Studie jener Landschaft, die sich vor uns auftat: Bergketten und Himmel, Wälder nach unten hin, das Gefunkel aus dem Berg tretenden Wassers, ganz am Rand die im zahmen Wind nur leicht bewegte Flagge der Austriaken.
Wenn man an die kunstvollen, aber rein abstrakten (oder scheinbar abstrakten)»Kritzeleien «dachte, die Simon bisher verfertigt hatte, zu Hause wie in der Schule, und nie etwas anderes, dann mutete diese Zeichnung hier wie die Beweisführung eines Künstlers an, so was eben auch zu können. Und sich damit den Respekt der Zweifler und Banausen zu verschaffen. Jedoch nicht auf die simple Art purer Nachmalerei der Natur. Denn auch in dieser Zeichnung stach die Kunst heraus — als ein Untoter, aber ein schöner Untoter. Die Zeichnung zeigte, wie sich das Licht der Sonne in den Gegenständen der Natur eine Oberfläche suchte, um sichtbar zu werden. Und sich dabei auch des Artefakts einer Nationalflagge bediente.
Das alles war verblüffend, vor allem natürlich auch wegen der Plötzlichkeit, mit der es geschehen war. Wie damals, als der Junge das erste Mal eine Kletterwand hochgestiegen, vielmehr hochgelaufen war.
«Schau dir das mal an«, sagte ich zu Kerstin, die sich herüberbeugte. Aber jetzt war es Simon, der den Block zuklappte und die Ansicht verbarg. Womit ich nicht gerechnet hatte, doch offensichtlich besaß Kerstin zwar das Privileg, sich Bleistifte ausborgen zu dürfen, aber nicht das der Betrachtung. Zumindest nicht in diesem Moment.
Ich fragte mich, ob das früher auch schon so gewesen war, daß Simon seine Zeichnungen Kerstin vorenthalten hatte.
Ich war mir wirklich unsicher.
In jedem Fall, es tat mir gut. Das ist nun mal nicht zu ändern, egal, wie aufgeklärt wir uns als Eltern geben und ständig behaupten, es sei völlig okay, wenn die Kinder ihre Liebe verteilen und unterschiedlich ausdrücken. Die Wahrheit ist doch die: Sobald sich das Baby, das Kleinkind, der junge Mensch, schlußendlich der alte Mensch, wenn dieser noch immer unser Sohn oder unsere Tochter ist, an uns schmiegt und nicht an den anderen, tut uns das nicht nur gut, sondern wir erleben es als Triumph. Die Erwachsenen sind die wahren Kinder.
Obgleich diese Zeichnung jetzt unter dem Deckblatt des Blocks verschwunden war, so war es doch meine Zeichnung. Ich lächelte. Kerstin sah scharf zu mir herüber.
Den Nachmittag verbrachten wir zu dritt — ohne Bevorzugungen und scharfe Blicke — auf der Terrasse. Gegen vier kam eine größere Gruppe an, die sich über mehrere Tische verteilte.
Ich kann sagen, daß ich immer für die Zahl drei geschwärmt habe. Als Kind etwa sagte ich beim Beten immer dreimal amen. Und wenn ich jemanden verfluchte, dann stets in einer dreifachen Steigerung. Der Spruch von wegen, aller guten Dinge seien drei, entsprach ganz meiner Vorstellung und Idealwelt. Wenn in einer Reihe nur zwei gute Dinge standen, empfand ich es als ein schlechtes Omen.
Nach dem» traumhaften «Erscheinen Astris und der wundersamen Zeichnung Simons entsprach es somit der von mir bevorzugten Tripelform, daß sich unter den neuen Gästen ein Mann befand, der vollkommen meiner Erinnerung an den Allesforscher, an Little Face, entsprach.
Natürlich war er es nicht. Dies hier war kein Traum. Abgesehen davon, daß Little Face ja in hohem Alter gestorben war und darum kaum noch im Traum eines Lebenden aufzutauchen brauchte. Faktum jedoch blieb, wie sehr dieser Mann hier dem Allesforscher meiner Kindheit ähnlich sah, beziehungsweise besaß er die gleiche gestreckte, schmale Wirkung, die ihn für mich größer erscheinen ließ, als er war. Erst recht, wenn er vor mir stand, was bald geschah, weil ich ihn, während er gegen die Brüstung gelehnt eine Zigarette rauchte, ansprach. (So wie er rauchte, sah es aus, als wäre dies eine Art photosynthetischer Prozeß, als würde er die Luft eben nicht schlechter, sondern besser machen.)
Ich erfuhr, daß es sich bei diesem Mann um einen Messerwerfer handelte. Einen Artisten, einst ein Star, der nun, als älterer Herr, Kurse gab für Leute, die diese Kunst erlernen wollten. Unten im Tal hielt er in einem Bauernhof, den er gekauft und hergerichtet hatte, Seminare ab, so eine Mischung aus Zen und Fingerfertigkeit, jedenfalls war der versammelte Lehrgang für zwei Übernachtungen zur Hütte hochgestiegen.
Der Mann hieß natürlich nicht Little Face und besaß auch keinen unaussprechlichen slawischen Namen, sondern trug den Künstlernamen Mercedes, Marc Mercedes, was in keiner Weise an das bekannte Auto erinnern sollte, es aber dennoch tat.
«Und Sie haben wirklich nichts mit Elementarteilchen zu tun?«fragte ich ihn.
«Wie kommen Sie nur darauf?«
Ich sagte ihm, er würde mich an jemanden erinnern, den ich gekannt hatte, als ich Kind in Köln war.
«Ein guter Mann?«
«Der beste, der mir je untergekommen ist!«versicherte ich und erzählte, warum ich diesen geliebten Menschen und väterlichen Freund als Allesforscher bezeichnet hatte.
«Nun, tut mir leid«, meinte Mercedes,»ich war immer schon Messerwerfer, ich stamme aus einer Artistenfamilie. Welche mit mir ihr Ende nimmt. Wie die ganze Profession, die ich treibe. Es ist schon peinlich, diese Leute zu unterrichten, anstatt sie zu unterhalten. Zu den Krankheiten unserer Zeit gehört, daß die Menschen alles selbst machen wollen.«
«Warum treten Sie denn nicht mehr auf?«
«Ich bin jetzt sechsundsiebzig und habe mein ganzes Leben lang nie einen Punkt getroffen, den ich nicht auch hatte treffen wollen. Das soll so bleiben und bleibt auch so. Aber es ist eine Sache, Kunst zu tun, eine ganz andere, dabei vor einem Publikum zu stehen. Im Publikum, in einem jeden Publikum, sitzen Leute, die wollen partout, daß etwas schiefgeht, daß ein Elfmeter verschossen wird, der Pianist neben die Taste greift, die Sängerin sich verschluckt und der Messerwerfer den Arm seiner Assistentin trifft. Gegen diese Leute — gegen den Geist dieser Leute — muß man ständig ankämpfen. Man ist nicht auf die konzentriert, die sich freuen ob der Vorstellung, sondern auf die anderen: die Feinde, die Sadisten, die Kritiker. Glenn Gould nannte es ›eine Kraft des Bösen‹. Er hat zu Recht behauptet, im Konzertsaal würde der Lynchmob regieren. Und genau dafür, den Lynchmob in seine Schranken zu weisen, fehlt mir die Kraft. Außerdem wollen die Menschen heutzutage ohnehin ganz andere Sachen sehen. Ich müßte mit lebenden Haien werfen oder das halbe Europäische Parlament auf eine Zielscheibe binden. Die Zuseher verlangen nach Illusionisten oder Terroristen. Das ist es, was sie begeistert.«
Ich wendete ein, daß die Menschen, die er unterrichtete, doch auch eine Art von Publikum seien.
Er entgegnete:»Die suche ich mir einzeln aus. Und scheide die Böswilligen aus. Hier kann ich das, nicht aber, wenn ich auf einer Bühne stehe.«
«Würden Sie mir das auch mal zeigen, wie Sie werfen?«
«Sie meinen, ich könnte Ihnen trauen?«
Ich lachte ihn an und sagte:»Ich gehöre zu den Guten, ehrlich. Der böse Geist, der einmal in mir steckte, ist verschwunden. Sogar aus meinen Träumen.«
Er nickte in der gleichen knappen, eigentlich nur das Kinn bewegenden Weise wie Little Face früher. Also verließen wir das Gebäude und spazierten ein Stück bergauf. Bei einer Bank angekommen, wies mich Mercedes an:»Setzen Sie sich, und bleiben Sie ganz ruhig sitzen.«
«Werden Sie auf mich werfen?«fragte ich, während ich Platz nahm und meine gestreckten Arme rechts und links über die Oberkante der Rückenlehne spannte.
«Im Grunde«, sagte Mercedes,»geht es darum, nicht danebenzuwerfen. Ich meine, man darf sich nicht auf die Person konzentrieren, die man verfehlen möchte, sondern auf das Stück Holz, das man nicht verfehlen möchte. Um so wichtiger, daß die Person vollkommen ruhig bleibt und nicht etwa mit dem Bestimmungsort darum konkurriert, ein Ziel abzugeben.«
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