Es versteht sich, daß ich mich keinen Millimeter rührte, nur insofern, als mein Brustkorb beim Atmen auf und ab ging, aber sonst nichts von mir.
So schnell, wie nun alles ablief, konnte ich wirklich nicht sagen, wo Mercedes sein Messer hervorgezogen hatte — vielleicht aus der Hose, vielleicht aus dem Ärmel seiner Jacke — , erkannte allein die Bewegung, mit der er das Wurfobjekt kreiselnd in die Höhe beförderte. So, als werfe er eine Bocciakugel.
Mit einem kleinen Geräusch — als sage das Holz Autsch! — landete das Messer mit seiner Spitze auf der Sitzfläche der Bank. Rechts neben meinem Schenkel, keine zehn Zentimeter entfernt. Da ich mit den Beinen leicht gespreizt saß, wäre Mercedes ebenso in der Lage gewesen, das Messer zwischen meinen Beinen, in unmittelbarer Nähe meines verletzlichen Geschlechts, aufkommen zu lassen. Darauf aber verzichtet zu haben zeigte seine Meisterschaft. Meister protzen nicht, und sie versetzen nicht in Schrecken. Sie verblüffen.
Und in der Tat war ich verblüfft. Ich sagte:»Gut, daß ich mich nicht bewegt habe.«
«Gut, daß Sie folgen können.«
«So«, sagte ich,»und jetzt zeigen Sie mir, wie Sie das machen.«
«Nicht so gerne.«
«Sie haben es mir versprochen.«
Mercedes aber erklärte, daß zum Messerwerfen ein idealer Werfer genauso gehöre wie ein idealer Assistent, obgleich es meistens Assistentinnen seien, jedenfalls Personen, die vor dem eigentlichen Ziel posierten oder im Falle einer rotierenden Scheibe sich festschnallten und dem Publikum — dem Lynchmob und den anderen — die Möglichkeit eines Nervenkitzels bescherten. Ein Bild erfüllend, das Bild von der Lebensgefahr. Niemand würde sich für einen Messerwerfer interessieren, der bloß auf eine Scheibe wirft, egal, wie genau er dort einen Punkt trifft.
«Sie sind der perfekte Assistent«, sagte Mercedes. Und fügte an:»Es wäre nicht gut, wüßten Sie mit den Messern auch umzugehen.«
Ich schüttelte den Kopf und dachte mir:»Komischer Alter. «Dann zog ich das Messer aus dem Holz und reichte es ihm. Ich dachte aber auch, daß er recht hatte. Und natürlich mochte ich ihn.
Wir spazierten noch ein wenig durch die Gegend, und Mercedes erzählte mir von seinem Leben in den Varietés, auch von seiner Frau, die übrigens nie seine Assistentin gewesen war, sondern als Konzertpianistin aufgetreten war. Mir schien, sie müsse tot sein, so, wie er von ihr redete, war mir aber nicht sicher und fragte auch nicht nach.
Später am Abend saßen wir alle in der Hütte, das gesamte Messerwerferseminar, mehrere Bergsteiger, die am nächsten Morgen auf den Astri-Berg gehen wollten, sowie meine kleine Familie und das Wirtsehepaar. Oben in einer Ecke klebte ein Fernseher. Unbeachtet lief ein alter Film. Ich hatte zuerst auch nicht so richtig hingesehen, aber während die anderen über das Wetter redeten wie über eine schrullige Alte, die nicht sterben will und wahrscheinlich alle überlebt, blickte ich hoch zu der Kiste. Stimmt, ich kannte den Film, besaß zumindest eine vage Erinnerung. Er war einige Male im Fernsehen gelaufen, während meiner Kindheit und Jugend, ein alter Film, so aus den Sechzigerjahren, der auf einem Schiff spielt, 1933, auf dem Weg von Veracruz nach Bremerhaven, ein Film, in dem die Charaktere der Menschen auf exemplarische Weise vorgestellt werden. Das Narrenschiff. Das war der Titel, das wußte ich noch, aber nicht viel mehr. Es waren bloß Splitter hängengeblieben. Richtig, Rühmann spielte mit, ausgerechnet er in der Rolle des braven Juden, wie auch alle anderen Figuren zwar stereotyp ausfielen — deutsche Berserker, amerikanische Primaten, an der Welt leidende Kunstmaler — , aber von ganz wunderbaren Schauspielern verkörpert wurden. Ein in jeder Hinsicht schwarzweißes Meisterwerk.
Ich hatte diese alten Dinger immer schon gemocht, mir viele davon auch mit dem Allesforscher angesehen, und schaute jetzt gebannt hoch. Mein Gott, Oskar Werner als herzkranker Schiffsarzt und Simone Signoret als drogenabhängige Freiheitskämpferin in einer Liebesszene: betörend, purer, feiner Schmerz. Während sie miteinander reden, sind sie beide eigentlich schon tot. Sie fragt:»Empfinden Sie etwas für mich?«Oskar Werner darauf mit der Stimme eines wirklichen Erzengels:»Nein, natürlich nicht. «Nie hat jemand schöner» Ja «gesagt. Und dann sein Gesicht auf dem ihren, sie verdeckend. Signorets Hand legt sich auf Werners Hinterkopf. Man sieht den Kuß also nicht, man spürt ihn. Werner küßt nicht nur die nicht mehr ganz junge, schon ziemlich aufgeblähte und abgelebte Simone Signoret, sondern jeden, dem so ein Kuß fehlt. Und das sind ja nicht nur die Ungeküßten. Darum solche Filme.
Und dann Schnitt.
Grober Schnitt. Man sieht zwei Männer in der Bar, einen Zwerg und einen Riesen, zumindest einen großgewachsenen Sportsmann. Beide betrunken, Mr. Tenny, der von Lee Marvin verkörperte Baseballspieler, und Carl Glocken, der Kleinwüchsige. Tenny erklärt nun mit hörbarer Verzweiflung, es nie geschafft zu haben, einen abgefälschten Ball in der Außenecke zu treffen. Glocken, der kleine Mann (keine Ahnung, wer ihn spielte), darauf:»Verzeihung! Wie bitte?«
Tenny beschreibt nun die Tragödie seines Lebens, spielt sie nach, die Szene, wie er als Schlagmann einer Baseballmannschaft versuchte, einen Ball zu treffen,»und gerade wie der Ball auf dich zukommt, taucht er drunter durch und ist weg. Wummm! Ich hab das verdammte Aas nie treffen können.«
Glocken sagt (und sein Gesicht meint das Gegenteil):»Verstehe.«
Tenny aber schreit ihn an, er, Glocken, habe ja keine Ahnung, wie das sei:»Wenn man draußen steht, die Menge brüllt, und dir geht der Arsch auf Grundeis. Und dann das Gequatsche von den Werfern: Der kann ja keinen abgefälschten Ball an der Außenecke treffen . — Und von da hagelt’s nur noch so abgefälschte Bälle in die Außenecke.«
Lee Marvin als Mr.Tenny (kurz darauf von Vivien Leigh mit einem» and here comes the ape «bedacht) erzählt nun, daß er noch heute seinen Vater von der Tribüne rufen hört, obwohl der nie dort war:»Großmaul! Du bist ein Blindgänger!«
Glocken wendet ein, Mr. Tenny sei etwas streng zu sich selbst, um in der Folge zu behaupten, es sei komisch, daß die Menschen ihre wirklichen Fehler nicht erkennen, aber ihre kleinen Schwächen furchtbar aufbauschen würden.»Zum Beispiel, es gibt auf der Welt sicherlich ca. 873 Millionen Menschen, die keine Ahnung haben, was ein abgefälschter Ball in der Außenecke ist. Ich halte es für außerordentlich übertrieben, daß Sie glauben, ein Blindgänger zu sein, nur weil Sie einen Ball nicht treffen konnten, abgefälscht oder nicht. — Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mr. Tenny?«
Lee Marvin als Tenny betrachtet mit herabgezogenen Mundwinkeln den kleinen Mann, und zwar unglaublich lange, mit dem Gesichtsausdruck eines Vollidioten, ohne etwas zu sagen. Endlich meint er:»Nein. «Um gleich darauf anzuschließen:»Wissen Sie, was ich glaube?«
Jetzt ist es der Zwerg, der lange schweigt, genauso lange, schließlich schluckt und sagt:»Nein.«
Woraufhin der Baseballer Tenny erklärt:»Ich halte Sie für einen zu kurz geratenen Intellektuellen.«
Nach einer kurzen Pause verfallen beide in ungehemmtes Gelächter.
Ich lachte nicht, aber ich spürte das Lachen tief in mir. Diese zwei Filmszenen, zuerst der Kuß, dann der abgefälschte Ball in die Außenecke, erschienen mir als eine vollkommene Beschreibung der Welt. Ich fühlte mich getroffen. Das Messer dieses Films steckte in meiner Brust und machte mich traurig. Traurig und fröhlich.
Vor lauter abgefälschten Bällen, die unter unseren Schlägern wegtauchen und uns, die wir in allen möglichen Außenecken stehen, blöd aussehen lassen, erkennen wir das richtige Leben nicht. Wie recht doch dieser Zwerg hatte. Und wie wenig sich daran ändern würde, daß er recht hatte, weil abgefälschte Bälle in Außenecken über ein realpolitisches Privileg verfügen. Sie kosten Karrieren, Vermögen oder die Ehre.
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