Ich spürte also, wie da ein in Schwarz und Weiß und mit rotem Bollenhut gewandetes kleines Schwarzwaldmädel sich nach und nach zerteilte, wie es zerging und verschwand. Natürlich kam dieses» Nachempfinden «nicht heran an ein tatsächlich verspeistes Stück Torte. — Wieso eigentlich nicht? Warum war es nicht möglich, das eigene Hirn genau in dieser Weise zu manipulieren und solcherart völlig kalorienfreie Geschmackserlebnisse von höchster Realistik zu ermöglichen?
Wie gerne hätte ich mit Lana darüber diskutiert.
Später spazierten wir noch ein wenig umher, kauften Lebensmittel für unsere Bergwanderung ein und kehrten schließlich ins Hotel zurück. Von meinem Fenster konnte ich auf den Eduard-Wallnöfer-Platz sehen, so benannt nach Tirols langjährigem Landesvater: eine weite, mit kleinen und größeren Erhebungen ausgestattete Fläche aus weißem Beton, man könnte sagen eine» Dauerwelle «von öffentlichem Raum. Die Bäumchen, die aus runden Löchern ragten, waren möglicherweise echt, muteten aber in diesem Ensemble an, als hätte man die Blätter aus grünen Aluminiumfolien gestanzt.
Kerstin fand den Platz toll, eine einzige große Skulptur, die quasi mitten in der Landeshauptstadt gestrandet war. Ein verfestigter Sandstrand für moderne Robinson Crusoes.
Ich merkte allerdings an, daß die meisten Passanten dieser» Bodenplastik «eher auszuweichen schienen. Hatten sie Angst vor der Kunst? Weniger verlegen waren hingegen die vielen Jugendlichen, die die glatten Bodenwellen nutzten, um sie mit ihren Skateboards zu bezwingen. Dabei erzeugten sie ein knirschendes Geräusch, das wolkengleich über dem Platz hing. Wie auch in meinen Ohren.
«Du bist spießig«, meinte Kerstin.
«Ich bin nicht spießig, sondern empfindlich. Wenn ich Skateboards höre, werde ich verrückt. Außerdem ist es ein dummer Sport.«
«Findest du über Hürden zu laufen soviel intelligenter?«
«Es ist ruhiger und eleganter.«
«Na, das kommt darauf an, wer da drüberspringt.«
Ich mochte es nicht, wenn sie in diesem Zusammenhang von» springen «sprach, und das wußte sie.
Wir hatten noch keinen richtigen Streit gehabt, aber es gab häufige Sticheleien (und so war es ja von Beginn an gewesen). Noch war das kein Problem. Die Sticheleien stachen nicht, sie berührten auch nicht, sondern flogen vorbei. Kleine Fliegen, die sich leicht verjagen ließen. Würde das aber so bleiben? Oder würden Wunden entstehen, in die dann die Fliegen ihre Eier legen konnten?
Während Simon auf dem Bett lag, seine Beine zu einem Pult angewinkelt, und auf dem iPad Angry Birds spielte — ein Spiel, in dem Vögel Schweine angreifen und sich die geklauten Eier zurückholen — , ging ich mit Kerstin ins Badezimmer, und wir stellten uns gemeinsam unter die Dusche. Liebe machen, wenn das Kind draußen spielte, war etwas merkwürdig, allerdings besser als in der Nacht, wenn jedes Geräusch ungleich schwerer wog und auch das kleinste Stöhnen am Klangteppich strickte. Allerdings hatte ich die Tür bloß angelehnt, selbst auf das Risiko hin, Simon könnte eintreten. Andererseits, wer in Angry Birds vertieft war, stand nicht so schnell wieder auf.
Sex mit Kerstin war unkompliziert. Leidenschaftlich, aber ohne dieses Bemühen, eine alles vernichtende Explosion zu bewerkstelligen. Sowenig bigott wie pervers. Sie mochte meinen Körper, ich den ihren. Nur hinterher meinte Kerstin, ich müsse ein wenig aufpassen mit meinen Muskeln. Das sei hübsch anzusehen, aber an der Grenze.
«An der Grenze wohin?«
«Na, zum Absurden. Zum Manierismus. Muskeln, die dann aussehen wie viele kleine Frauenbrüste. Und alle mit Silikon verstärkt.«
Ich lachte und stellte mir vor, wie das wäre, die eigenen Muskeln mit einer Vielzahl von BHs zu verdecken. Sodann versprach ich:»Keine Angst. Ich werde aufpassen.«
«Fein«, meinte Kerstin. Zur Belohnung rieb sie eine Pflegelotion in meine Haut.
Jetzt hörte ich sie wieder, die knirschenden Rollen der Skateboards.
Die Autofahrt am nächsten Tag wurde ein Fiasko. Nicht wegen des Wagens, der brav seine Dienste verrichtete, und auch nicht wegen des Wetters, das besser nicht hätte sein können. Der leichte Dunst vom Vortag war einem klaren Himmel gewichen, aus dem alle Feuchtigkeit verschwunden schien. Ein trockenes Tuch aus Blau (die» Geheimmalerin «Kerstin hätte gesagt: ein deutsches Blau, ein Expressionistenblau). Nein, das Problem war ich selbst. Und zwar als Folge der völlig unnötigen Entscheidung, die Brennerautobahn zu meiden, mir die Bezahlung der Maut zu ersparen und statt dessen die Nebenstraße zu nehmen, die ja landschaftlich sicher die reizvollere war.
Sparsamkeit neigt dazu, sich gegen den Sparenden zu wenden.
Wobei» reizvoller «natürlich stimmte, da sich die Landesstraße im Gegensatz zur sehr gerade dahinführenden und für die Umgebung geradezu blinden Autobahn nahezu tänzerisch gab, die Landschaft umgarnte und umspielte. Da ein Handkuß, dort ein Nicken, eine Verbeugung, eine Drehung, eine Wendung. Daß das natürlich länger dauert, ist klar. Fast alles Gute und Schöne dauert länger.
Was ich freilich völlig unterschätzt hatte, war der Umstand, wie sehr der talseitige Rand der alten Bundesstraße steil nach unten führte, zumindest nach meinem von Höhenangst dominierten Bewußtsein. Auch fehlten an vielen Stellen durchgehende Leitplanken, und es waren allein Pflöcke, die mehr in den Abgrund einluden, als ihn zu separieren. Ja, der Abgrund wirkte als ein potentieller Teil der Straße.
Klar, hier war nicht Indien oder die Türkei oder wo auch immer Busse in Schluchten fielen, und doch fühlte ich mich elend. Mir stand der Schweiß auf der Stirn, und ich sah sehnsüchtig hoch zur kompakten Brennerautobahn, die sich immer wieder keck zeigte. Meine Hände hielten das Steuer, als handelte es sich um die Kante eines Felsens, an dem ich hing.
Wie so oft beim Hallenklettern fragte ich mich auch jetzt:»Was tue ich hier bloß?«
Simon saß hinten und befand sich mit Donald Duck auf Abenteuer im Dschungel.
Endlich bat ich Kerstin, sie möge statt mir fahren. Aber sie weigerte sich. Sie erklärte, ihr fehle die Routine für eine solche Strecke.
«Mir auch«, gab ich zurück.
«Aber es ist dein Wagen. Du kennst seine Macken.«
«Er hat keine Macken«, sagte ich. Meine Stimme bebte.
«Wenn er keine Macken hat, warum willst du dann, daß ich ihn fahre?«
«Mein Gott«, fuhr ich sie an,»weil ich diese Straße unmöglich finde. Schau doch, wie es da runter geht.«
«Also, so schlimm ist das wirklich nicht.«
«Wenn das nicht so schlimm ist, warum tauschen wir dann nicht?«
«Weil ich — wie ich dir schon gesagt habe — ungeübt bin«, erklärte Kerstin. Und fügte an:»Wenn ich fahre, dann mit ’ner Automatik. Außerdem machst du das eh ganz okay.«
Ich machte es mitnichten» eh ganz okay«. Weshalb ich nach viel zu langer Qual den Wagen ausfahren ließ und am bergseitigen Rand der Straße parkte.
«Was ist denn jetzt los?«gab Kerstin von sich. Es war ein Keifen in ihrer Stimme. Ich hoffte sehr, daß dieses Keifen mit der Zeit nicht zunehmen würde. Keifen war das Schlechteste, was jemand für seinen Teint tun konnte. Der ständig keifende Mensch wurde grauer als jede Taube. — Vor allem aber fragte ich mich, ob sich Kerstin dumm stellte oder nicht. Mir war klar, daß ihr diese Fahrt genauso unangenehm war wie mir. Bloß befand sie sich dank des Beifahrersitzes meistens auf der Seite der Steigung, wenn sie nicht ohnehin die Augen geschlossen hielt, freilich vorgab, sich ausruhen zu wollen. Sie betete wohl, es möge bald vorbei sein. (Für die meisten Autofahrer mochte eine solche Strecke nicht das geringste Problem darstellen, aber die meisten Autofahrer fuhren gerade woanders, etwa da oben auf der Autobahn.)
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