Maries Körper begann wieder zu summen, und sie spürte, daß sie ein Ding war, das er ansah. Ganz so, wie wenn der König sie betrachtete. War ein Ding wie alle anderen in seiner Welt und meinte tatsächlich zu spüren, wie sie ihm, wie alle Dinge, eine Seite zeigte, die sie selbst nicht kannte. Die nur er sah.
Christian hockte sich auf ihre Brust, seine Schenkel an ihre Seiten gepreßt, als ritte er ein kleines Tier. Es gab keinen Grund, die Augen zu öffnen, wohl aber die Lippen, zwischen die jetzt die feuchte Spitze seines Gliedes drängte. Sie nahm so viel, wie sie konnte, davon in den Mund. Er bewegte sich vor und zurück, erst langsam, dann schneller. Sie hob den Kopf ein wenig und folgte achtsam seinen Bewegungen. Nach einer Weile schluckte sie, er verharrte einen Moment in ihr, dann stieg er wieder von ihr herunter. Sie schloß die Lippen und überlegte, ob sie wohl lächelte. Spürte die Lider über ihren geschlossenen Augen. Dann schlief sie in der Hitze ein.

Es war sehr heiß, Juli oder August, da entdeckte Gustav die Geschwister einmal an einer ihrer Lieblingsstellen auf der Westseite der Insel. Verborgen vom hohen Ufersaum saßen sie dort am Wasser, nur ein Schleichweg durch das Gestrüpp führte herab. Dicht am Ufer die mächtige alte Grauweide beschirmte sie mit ihren weit ins Wasser hängenden Zweigen. Beide lächelten ihm zu, als sie ihn herankommen sahen, machten jedoch keine Anstalten, ihre Umarmung in der Kuhle des Wurzelwerks der Weide zu lösen, die einer bequemen Achselhöhle glich, in der auch Gustav früher oft gelegen hatte. Doch da war kein Platz mehr für ihn, und so stand er eine Weile unsicher lächelnd vor den beiden, die sich ausgezogen und ihre Kleider auf einen kleinen Haufen gelegt hatten, als Marie plötzlich eine ruckartige Bewegung machte, deren Ursache er gar nicht begriff, und dann, seltsamerweise von der Umarmung ihres Bruders nicht gehalten, aus der Wurzelkuhle heraus- und hinabrutschte ins Wasser, das hier, wegen der steilen Uferböschung, sofort einigermaßen tief war.
Mit einem spitzen Schrei tauchte ihre nackte Gestalt unter, und bevor sie wieder auftauchte, und ohne daß er nachgedacht hätte, war Gustav ihr schon hinterhergesprungen. Er wußte, sie konnte nicht schwimmen, auch Christian seltsamerweise nicht, er selbst hatte es mit fünf oder sechs von einem Gärtnergehülfen gelernt, während die Zwerge auf dem Landungssteg gesessen und mißtrauisch zugesehen hatten.
Mit einem Griff um ihren zappelnden Leib hielt er sie. Sie hatte Wasser geschluckt, hustete und japste und paddelte wie ein junger Hund mit Armen und Beinen. Seine Füße faßten Grund. Er hielt sie ganz fest. Und spürte überrascht: Im Wasser war sie nicht kleiner als er, Wange an Wange waren sie, und je mehr sie sich wieder beruhigte und ihr Griff um seine Schulter sich lockerte, um so tiefer ließ er sich ins Wasser hineingleiten. Stieß sich vom Grund ab und schwamm ein Stück, sie in seinem Arm, ohne zu überlegen, was das sollte, und dann küßte er sie. Schwamm mit langsamen Beinschlägen um den Mittelpunkt ihrer beiden Köpfe herum, die nun ganz ruhig auf dem Wasser lagen, und Marie, die Augen geschlossen, ließ sich von ihm küssen. Sie trieben umeinander, er konnte nicht sagen, wie lange, dann löste sie sich von ihm und öffnete die Augen.
»Bring mich ans Ufer«, flüsterte sie.
Christian, der keinen Versuch unternommen hatte, seiner Schwester beizustehen, lag noch immer in der Wurzelhöhlung des Baumes und grinste sie an, während sie, nun wieder unbeholfen in ihren so verschiedenen Körpern, zu ihm hinaufkletterten. Das Herz schlug Gustav dabei bis zum Hals, und ein Durcheinander von Gefühlen tobte in ihm, Scham und Freude und Schwäche zugleich, und all das wollte er unbedingt vor den beiden, vor allem aber vor Christian, verbergen, der ihn spöttisch musterte. Braungebrannt und in seiner Mißgestalt sehr muskulös saß er da, und während Gustav die nackte Gestalt des Mädchens betrachtete, das er gerade geküßt hatte und das sich jetzt, tropfend und zitternd, wieder zu seinem Bruder setzte, zwinkerte er ihm sogar zu, und eine solche Intimität lag in diesem Zwinkern, daß Gustav errötete, denn gerade in diesem Moment dachte der spätere Hofgärtner der Pfaueninsel zum ersten Mal, daß er Maria Dorothea Strakon, die Zwergin, liebe. Doch seltsamerweise katapultierte ihn dieses Wissen, das sein Herz schlagen ließ, gleich wieder so unendlich weit von ihr weg, daß Gustav nicht anders konnte, als das Lächeln Christians zu erwidern.

Nur aus einem Grund steht das Schloß dort, wo es eben steht, so weit auf der Westspitze der Insel, um vom Marmorpalais in Potsdam aus als ferne Vedute gesehen zu werden. Jeder Blick, der uns trifft, zerstört unsere eigene Welt und stellt uns in seine eigene hinein. Marie hatte das von jeher gespürt, so, als trüge sie diesen Blick in sich, von ihrer allerersten und einzigen Überfahrt von Potsdam herüber, bei der sie sozusagen jenem Betrachter gefolgt war, der auf immer und unabänderlich und unsichtbar dort jenseits der Havel stand. Aufmerksam spähte sie in seine Richtung. Es war windig, und auf den kleinen, kabbeligen Wellen glitzerte es. Ob es diesen Glanz auf dem Wasser vielleicht nur gab, wenn der Himmel darüber leuchtete wie gerade jetzt, da die Wolken für einen Moment aufrissen? Keine Schönheit also, die nicht das Abbild eines Schönen war? Wenn Gustav mich liebte, überlegte sie, wäre ich dann also schön? Marie schob Kies mit dem Fuß hin und her und hielt das Tuch fest über der Brust zusammen. Nun war der Himmel wieder so grau und stumpf wie das Wasser, und sie fror, obwohl es doch Juni war. Schnell schlüpfte sie ins Schloß hinein.
Wenn auch der Onkel als Kastellan die Schlüssel sorgsam verwahrte, fand sie doch immer eine offene Tür, meinte als Schloßfräulein auch ein Recht zu haben, sich im Schloß aufzuhalten, und stieg meist zuerst die Treppe hinauf, die im südlichen der beiden Türme bis auf das Dach führte, von wo man einen weiten Blick über die Insel und den Fluß hatte. Über das ganze Königreich hinweg, hatte sie als Kind gedacht. Im Turmzimmer im ersten Stock mit dem Schreibtisch des Königs betrachtete sie dann die Aquarelle an den Wänden, setzte sich im Schlafcabinett für einen Moment auf sein schmales Feldbett. Glitt sie anschließend in den Saal hinein, der die ganze Breite zwischen den Türmen und die halbe Tiefe des Schlosses einnahm, lauschte sie darauf, wie das ganze hölzerne Gehäuse knackte, während der Wind um es strich. Sie mochte den Glanz auf allem, auf dem Marmor des Kamins, auf dem Glas der Lüster, auf den Mahagonistühlen und auf dem lackschwarzen Klavier, den stumpfen Glanz der schwarzen Roßhaarbezüge und das spiegelnde Intarsienparkett.
Heute aber tat sie etwas, was sie noch niemals getan hatte, wenn sie allein hier im Saal war. Vor den großen bodentiefen Spiegeln zog sie sich aus, fror schrecklich dabei, und als endlich all ihre Kleider um sie verstreut auf dem Parkett lagen, drehte sie sich zitternd hin und her, um sich einmal von allen Seiten zu betrachten. Im Kastellanshaus wechselte sie ihre Kleider morgens und abends hastig und ohne daß sie überhaupt noch merkte, wie sehr sie sich stets bemühte, den eigenen Körper zum Verschwinden zu bringen. Und auf eine Weise, die sie jetzt selbst irritierte, war ihr das auch tatsächlich gelungen, denn außer der Kälte spürte sie nichts, während sie sich ansah. Sie war eine junge Frau, und ihr fiel all das ins Auge, was sie von einer solchen unterschied, ihr vorgewölbter Bauch, der herausgestreckte Steiß und ihre Säbelbeine, verbogen, als lastete ein ungeheures Gewicht auf ihnen. Doch sie konnte nichts dabei empfinden.
Ungläubig ging sie immer näher an das Spiegelbild heran und musterte ihren vor Kälte schlotternden Körper so gründlich wie möglich, doch kein Gefühl wollte sich einstellen. Lange suchte sie dann im Spiegel ihren eigenen Blick, als wäre mit ihm etwas falsch. Doch ein Blick läßt sich nicht anblicken. Aus dem Spiegel sah niemand zurück, sosehr sie sich auch bemühte, sich selbst in die Augen zu sehen. Sie waren nichts als gleichgültige Kugeln, die leblos starrten. Gespenstisch, weil Marie ja wußte, daß diese Kugeln sie im selben Augenblick ansahen. Schaudernd machte sie sich von ihrem Abbild los, beeilte sich mit dem Anziehen und verließ eilig das kalte Schloß.
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