Richard und Raschid sitzen bei geschlossener Tür in einem Kämmerchen gleich neben dem Eingang. Einer der Männer vom Wachdienst hat ihnen, als Richard nach einem ruhigen Platz fragte, diesen Raum aufgesperrt. Nun sitzen die beiden zwischen zusammengefalteten Kartons, die schon für den Umzug bereitgestellt sind, und Türmen aus übereinandergestapelten Stühlen, Raschid hat sich einen Stuhl mit weinrotem Polster heruntergenommen, Richard sich einen mit gelbem.
Zu Eid Mubarak versöhnt man sich mit allen, mit denen man das Jahr über Streit hatte, sagt Raschid. Man besucht die Familie. Spendet für die Armen. Kennst du die fünf Säulen des Islam?
Richard schüttelt den Kopf.
The five pillars of Islam are: Erstens das Vertrauen auf Gott, zweitens das Beten, drittens das Teilen mit den Armen, viertens das Fasten während des Ramadan, und fünftens, wenn man es sich leisten kann, wenigstens einmal im Leben das Pilgern nach Mekka.
Aha, sagt Richard.
Wer tötet, ist kein Muslim.
Richard nickt.
Nur, wenn man essen will, darf man töten, aber niemanden, auch nicht das kleinste Insekt, das deinen Weg kreuzt, darfst du einfach so, ohne Grund töten. Es kann sein, dass auch so ein Tier Kinder zu Hause hat, die warten. Man weiß es nicht. Nie.
Nein, sagt Richard.
Nicht einmal eine Fliege!
Gut, sagt Richard.
Wer tötet, ist kein Muslim.
Wenn Sommer ist, saugt Richard die Fliegen und Wespen, die um sein Essen herumschwirren, mit dem Staubsauger ein. Im ersten Studienjahr ist er aus der Kirche ausgetreten.
Und auch Jesus ist im Koran ein Prophet, sagt Raschid.
Einmal hat Richard in seinem Seminar über» Jesus, den letzten griechischen Gott «die Szene der Jesusgeburt in den verschiedenen Evangelien der Bibel auch mit der entsprechenden Szene im Koran verglichen. Deswegen weiß er, dass Maria im Koran ganz allein ist, als sie Jesus zur Welt bringt. In einer entlegenen Gegend bringt sie ihn zur Welt, sie hat solche Schmerzen, dass sie sagt: Oh dass ich doch zuvor gestorben und vergessen und verschollen wäre! Ob seine Studenten verstanden, was das hieß, dass Maria nicht nur gestorben, sondern auch vergessen sein wollte? Aber solche Dinge ließen sich nicht unterrichten. Er hatte nur darauf hingewiesen, dass gleich im Anschluss an die Verzweiflung Marias das Neugeborene unter ihr auf einmal zu sprechen beginnt: Direkt aus der Not Marias kommt also das Wunder des Sprechens. Das Kind spricht, um seine Mutter zu trösten, es spricht von einem Bach — und der Bach ist da, dann spricht es zu ihr von einem Baum — und der Baum ist da. Maria findet sich in eine paradiesische Landschaft versetzt, sitzt am Rand eines Baches, hat eine Dattelpalme zu Häupten, sie isst und trinkt, und als sie später mit dem Kind auf dem Arm wieder zu den Menschen zurückkehrt und gefragt wird, woher das Kind, muss sie selber nichts sagen, denn statt ihrer spricht der eben geborene neue Prophet, 54 Zentimeter ist er erst groß, und wiegt 3500 Gramm.
Das Paradies ist unter den Füßen der Mutter, sagt Raschid. Richard versucht, sich diesen Mann, der da neben ihm sitzt, in einem blauen Gewand und mit einer Kappe auf dem Kopf vorzustellen. Gern würde ich meine Mutter noch einmal wiedersehen, bevor sie stirbt, sagt Raschid. Sie ist jetzt siebzig. Aber wenn ich nach Nigeria zurückgehe, kann ich nicht mehr zurück nach Deutschland.
Warum willst du eigentlich nicht für immer nach Nigeria zurück?
Raschid antwortet nicht auf die Frage. Mein Vater, sagt er, war sehr beliebt. Jeder wollte ihm seine Tochter zur Frau geben. Am Ende hatte er 5 Frauen und 24 Kinder. Ich war der erste Sohn nach 10 Töchtern, meine Mutter die dritte Frau meines Vaters. Abends saßen wir beim Essen alle um einen großen Tisch. Ich durfte vom Teller meines Vaters essen. Jeden Morgen um Viertel nach sieben, mein Vater war noch ganz verschlafen, stellten wir größeren Kinder uns in einer Reihe vor seinem Sessel an, dann drückte er uns das Essensgeld für die Schule in die Hand. Der Sultan hält Audienz auf einer Plattform. Drei Stufen führen hinauf. Die Plattform ist mit Seide belegt und mit Kissen. Darüber spannt sich ein Schirm, eine Art Pavillon aus Seide, auf dem ein Vogel in Gold ist, von der Größe etwa eines Falken. Es ertönen Trommeln, Trompeten und Jagdhörner. Zwei gesattelte und gezäumte Pferde werden gebracht, zusammen mit zwei Ziegen, als Schutz gegen den bösen Blick. Wenn einer den König anspricht und von ihm eine Antwort erhält, entblößt er danach seinen Rücken und wirft vor aller Welt Staub über seinen Kopf und seinen Rücken, wie ein Badender, der sich mit Wasser bespritzt.
Um halb acht kam dann der Fahrer des Lieferwagens, sagt Raschid, wir kletterten auf die Ladefläche, er holte noch ein paar Nachbarkinder ab und fuhr uns alle zusammen zur Schule.
Was für Fächer hattet ihr?
Englisch, Mathematik, im Nebenfach Hausa.
Raschid besucht, als er erwachsen ist, eine Berufsschule und lernt Schlosser.
Vier seiner Schwestern gehen auf eine höhere Schule. Eine studiert und wird Lehrerin.
Seltsam, denkt Richard, dass ihm erst jetzt wieder die Reisebeschreibungen Ibn Battutas eingefallen sind, der im 14. Jahrhundert von Marokko über Afrika und Mittelasien bis nach China gereist ist.
Sein Schulfreund Walther, der es zu DDR-Zeiten nur bis zum Reisekader für das sozialistische Ausland brachte, hatte extra Arabisch gelernt, um dieses Buch erstmalig ins Deutsche zu übertragen. Wo nach Walthers Tod das Manuskript wohl hingekommen sein mochte? Erschienen ist es jedenfalls nicht, denn der Verlag, der es hatte veröffentlichen wollen, ging gleich nach dem Mauerfall pleite. Richard hatte Walther damals beim Korrekturlesen geholfen.
24 Kinder von 5 Frauen, so ähnlich war es auch bei Walther gewesen, nur mussten dessen 4 Frauen gottlob nie unter einem Dach wohnen. Dem ältesten Sohn hatte Richard auf der Beerdigung von Walther beim Defilee die Hand gedrückt und gesagt, es tue ihm sehr, sehr leid, aber der Sohn hatte ihm nur geradenwegs in die Augen gesehen und gefragt: Ja, was denn? Angeblich hatten sofort mit dem Tod von Walther die Streitigkeiten der Exfrauen und Kinder um das Haus begonnen, für das dessen vierte Frau noch das Wohnrecht besaß. Jetzt, zu Westzeiten, war so ein Haus etwas wert. Helle, ausgewaschene und zerlöcherte Jeans hatte Walthers ältester Sohn auf der Beerdigung seines Vaters getragen. Hoffentlich stimmte es, was gesagt wird: Dass jemand, der unter der Erde liegt, keinen Schmerz mehr empfindet und nichts mehr spürt.
Zu Eid Mubarak haben immer alle Frauen gemeinsam gekocht, sagt Raschid. Es ist der höchste Festtag bei uns, man muss viel essen, man feiert ja das Ende des Fastens. Und das Haus wird vorher wochenlang aufgeräumt und geputzt, von oben bis unten. In dem Jahr, 2000, war der Stoff, den mein Vater für unsere Festtagsgewänder gekauft hatte, blau. Richard weiß plötzlich, dass er nun alles ganz genau wissen muss: Jede Speise, die auf diesem Tisch stand, der für Eid Mubarak gedeckt war, soll Raschid ihm beschreiben. Eggplant? Tomaten? Peperoncini in Öl? Fisch? Reis? Yamwurzeln? Plantains? Kalb, Hühnchen und Lammfleisch? Saßen die Frauen beisammen, oder saß jede mit ihren Kindern an einer bestimmten Stelle des Tisches? Stand der Tisch innen im Haus, auf einer Veranda oder im Freien? Am liebsten würde Richard überhaupt nicht mehr aufhören zu fragen. Es gibt also am Abend zur Beleuchtung Laternen mit buntem Glas? Nach dem Essen, wenn es schon dunkel wird, hängen die Kinder diese Laternen an lange Stäbe und machen einen Laternenumzug durch ihr Viertel? Sie singen dabei? Und die Erwachsenen besuchen ihre Verwandten? Am nächsten Tag geht man mit der ganzen Familie spazieren?
Aber den Abend und den nächsten Tag gab es in dem Jahr nicht mehr, sagt jetzt endlich Raschid.
Gegen elf am Vormittag, sagt Raschid, waren wir Männer gerade fertig mit dem Gebet. Der Gebetsplatz ist ungefähr so weit von unserem Haus entfernt wie die Oberbaumbrücke vom Alex. Wir wollten gerade nach Haus zu unseren Familien fahren, um mit dem Festessen zu beginnen, da überfielen sie uns. Mit Knüppeln, Messern, Macheten. Mein Vater wollte eben sein Auto aufschließen, da kamen sie angerannt, trieben uns auseinander, begannen, auf uns einzuschlagen, mit Knüppeln, und einzustechen, mit Messern, Macheten, dann stießen sie meinen Vater ins Auto, stiegen zu dritt bei ihm ein, er musste mit ihnen wegfahren, das war das letzte, was ich von ihm sah. Drei Wochen vorher hatte er seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert.
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