Raschid hat kräftige, sehr schwarze Hände, sie liegen auf seinen Knien, nur die Fingerkuppen sind klein und die Haut unter den Nägeln ist rosig.
Vor der Stadt haben sie ihn in seinem Auto verbrannt.
Richard und Raschid sitzen beide einen Moment lang da, ohne etwas zu sagen.
Weiß man, wer das getan hat? fragt Richard schließlich.
Raschid antwortet nicht.
Es war sehr schlimm, sagt er nach einer Weile. Warum töten Menschen andere Menschen?
Das ist die viel richtigere Frage, denkt Richard.
Raschid hat eine Narbe über dem Auge. Raschid hinkt, das hat Richard gestern gesehen.
Wir versuchten wegzukommen. Meine Brüder, meine Neffen, meine Onkel, die Nachbarn. Alle rannten und schrien. Überall lagen Leute herum, alles war voller Blut. Einer meiner jüngeren Brüder hatte sich zuerst in einem Mangobaum am Rand des Platzes versteckt. Bei Einbruch der Dunkelheit lief er zum Fluss hinüber und versteckte sich dort im Wasser, die ganze Nacht stand er aus Angst da im Wasser, auch am Ufer des Flusses haben sie Leute gelyncht, hat er später erzählt, er hat alles gesehen. Ich erinnere mich an den Geruch nach Rauch, sagt Raschid, während ich lief und lief. Die ersten Häuser fingen schon an zu brennen. Von der Oberbaumbrücke zum Alex. Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind, sein Ross, das trug ihn fort geschwind. Sankt Martin ritt mit leichtem Mut, sein Mantel deckt ihn leicht und gut. Im Jahr 2000 fiel der traditionelle Laternenumzug der Kinder in der nigerianischen Stadt Kaduna, von deren Existenz Richard erst seit zwei Wochen weiß, am Abend von Eid Mubarak aus. Beim letzten Laternenumzug zu Sankt Martin waren die hiesigen Kinder singend um den Schlossplatz gezogen, die junge Duisburgerin aber, die seit drei Jahren in demselben Mietshaus in Richards Straße wohnt und ihn in den letzten Monaten beim Einkaufen oder am Flaschencontainer hin und wieder merkwürdig angesprochen hat, manchmal auch stand sie auf dem Bürgersteig und stritt mit jemandem, der unsichtbar war, diese Duisburgerin also hatte sich, während die Kinder singend im Kreis um den Schlossplatz spaziert waren, in den dunklen Knallerbsenbüschen am Rande des Platzes versteckt gehalten und geheult wie ein Wolf.
Wir liefen, so schnell wir konnten, nach Hause, um die Frauen zu warnen. Die Frauen nahmen die Kinder und machten sich sofort auf den Weg — zu Freunden, zu ihren eigenen Eltern. Auch meine Mutter versteckte sich bei ihren Eltern auf dem Dorf. Ich habe nur ein Ersatzgewand aus dem Schrank genommen und in eine Tüte gestopft. Selbst die Hose dazu habe ich in der Eile vergessen. Kaum eine halbe Stunde, dann war kein Mensch mehr im Haus. Das Festessen stand noch unangerührt auf dem Tisch, als wir gingen. Nicht einmal die Tür haben wir hinter uns abgeschlossen. Wozu auch? Das Haus war von oben bis unten aufgeräumt und geputzt für Eid Mubarak. Von oben bis unten aufgeräumt und geputzt, als es niedergebrannt wurde, ein paar Stunden später.
Von einem Tag auf den andern hatte ich keinen Vater mehr, keine Familie, kein Haus, keine Werkstatt. Von einem Tag auf den andern war unser ganzes bisheriges Leben vorbei. Wir konnten unseren Vater nicht einmal begraben. Ich bin noch einmal zu meiner Mutter gegangen, um Abschied zu nehmen, dann bin ich nach Niger gefahren. Das war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Vor dreizehn Jahren. Wenn meine Mutter mich am Telefon fragt, wie es mir geht, sage ich immer: Gut.
Richard fällt ein, wie Raschid am Anfang dieses Gesprächs gesagt hat: Das Paradies liegt unter den Füßen der Mutter.
Ich kann kein Blut mehr sehen, sagt Raschid.
Und erst jetzt wird Richard klar, dass Raschid zwei Stunden gebraucht hat, nur um die Frage zu beantworten, die er ihm eingangs gestellt hat.
Wie mit einem Schnitt wurde unser Leben in dieser Nacht einfach von uns abgeschnitten.
Cut, sagt Raschid.
Cut.
Die beiden Männer vom Wachdienst grinsen, als Richard und Raschid wieder aus dem Kämmerchen kommen, und sagen: Das war aber ein langes Gespräch. Richard sagt: Ja.
Auf dem Weg nach Hause geht er in den Blumenladen und kauft einen riesigen Strauß mit bunten Astern. Noch nie hat er für sich selbst Blumen gekauft. Er stellt sie in einer großen durchsichtigen Vase auf den Tisch in der Küche. Jetzt ist es so, als sei seine Frau noch da. Oder seine Geliebte.
Letzte Nacht, das fällt ihm erst jetzt wieder ein, ist er aufgewacht und ist, statt pinkeln zu gehen, Zimmer für Zimmer durchs Haus gestrichen, einfach so, ohne etwas zu suchen. Einfach so, im Dunkeln, durch sein eigenes Haus gestreift wie durch ein Museum, als gehöre er selbst schon nicht mehr dazu. Zwischen den Möbeln, von denen er manche doch seit seiner Kindheit kennt, ist ihm sein eigenes Leben, Zimmer für Zimmer, plötzlich vollkommen fremd erschienen, vollkommen unbekannt, wie eine sehr weit entfernte Galaxie. Geendet hatte sein Rundgang in der Küche, mit Scham denkt er daran, wie er hier in der letzten Nacht auf einem Stuhl saß und, ohne den Grund selbst zu wissen, aufgeschluchzt hat wie ein Verbannter.
Was da in ihn gefahren sein mochte? Er weiß es nicht mehr. Oder hat er all das nur geträumt?
Aber essen muss man, hat seine Mutter immer gesagt.
Er nimmt eine Büchse aus dem Regal, Erbsensuppe, das dauert nicht lange. Und danach den Teller in die Geschirrspülmaschine. Das freut ihn noch immer. Geschirrspülmaschinen gab es früher im Osten nicht. Deutschland is beautiful.
Und dann, bevor es dunkel wird, noch kurz in den Garten. Vielleicht das Laub aus den Regenrinnen, solange man noch etwas sieht, und das Vordach abfegen. Gut, dass seine neue Leiter so lang ist.
Am Abend dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, um sich Notizen zu machen.
Erst sitzt er eine Weile still da, und schließlich stehen auf dem Papier nur drei kurze Sätze:
Es gab eine Kindheit. Es gab einen Alltag. Es gab eine Jugend.
Und darunter in Klammern: Raschid = der Olympier = der Blitzeschleuderer.
Der Lichtkegel seiner Schreibtischlampe macht den Buchstaben eine Bühne, auch als Richard schon ins Bad gegangen ist, um sich die Zähne zu putzen.
Am nächsten Tag soll eigentlich Sprachunterricht sein, aber als er hinkommt, erfährt er vom Wachdienst, dass heute der Geldausgabe-Tag ist. Die sind alle raus, sagt ihm der Mann in der Phantasieuniform. Gut, dass Richard den Einkaufszettel dabei hat:
Geschirrspülmittel
1 Quark
1 Butter
Marmelade (Schwarze Johannisbeer? Himbeer?)
Schinken
Eisbergsalat
2 Gurken
Tomaten, mittelgroß
Mineralwasser
½ Mischbrot
Beim Einkaufen begegnet er Sylvia, der Frau seines Freundes, ja, er hat heute unverhofft nichts zu tun, unverhofft, so? Du schreibst sicher, musst Vorträge halten? Nicht direkt, sagt er, aber das sei eine längere Geschichte. Ob er vielleicht mit ihnen zusammen essen möchte, vom Geburtstag sei noch allerhand übrig, ja, warum eigentlich nicht, er bringt nur vorher den Einkauf nach Hause, gut, bis gleich dann, in Ordnung.
Woran arbeitest du denn gerade? fragt Detlef, während Richard sich noch die Schuhe abputzt. Bis vor fünf Jahren war Detlef als Innenarchitekt bei einer Firma angestellt, die Ladeneinrichtungen entwirft und baut, seitdem ist er im Vorruhestand. Nach dem Mauerfall war es sein Glück, dass er fließend Russisch sprach, denn so war er für die neuen Geschäftsleute in Moskau der Mann aus dem Westen, für seine westlichen Arbeitgeber aber der ehemalige Ostler, der mit den Russen zurechtkam. Sylvia, die, als sie in dieses Haus einzog, noch einen Pferdeschwanz trug und aussah wie ein Mädchen, war bis zum Mauerfall Typographin gewesen, danach hatte sie ihre Arbeit verloren, und einige Jahre später erwies sich, dass die Zeit nach dem Mauerfall für sie praktisch mit dem Beginn des Computerzeitalters zusammenfiel, denn wenig später waren all diese neuen Techniken auf den Markt gekommen, und von da an gab es den Beruf, wie sie ihn gelernt hatte, nur noch im Museum. Seit auch ihr Mann keine Arbeit mehr hat, sind beide von ihren Ersparnissen auf Reisen gegangen, haben Venedig gesehen, Marokko und Hamburg, haben die Pyramiden besichtigt, den Eiffelturm, Stonehenge und die kroatische Küste. Bis vor einem Jahr, als Sylvia krank wurde. Auf der Geburtstagsfeier seines Freundes hatte er sie zum ersten Mal sagen hören: Ich bin froh, dass ich von der Welt noch so viel gesehen habe. Bei dem noch hatte er unwillkürlich seinen Freund angesehen, und der Freund hatte gefragt: Willst du ein Bier?
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