«Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss / Vergessen, was im Laubwerk dich nie stört, / Die Qual, das Fieber und den Überdruss, / Hier wo ein jeder jeden stöhnen hört«— so ging der Vers weiter, mit Anniks Smartphone kriegten wir es leicht raus, auch dass er von Keats war.
Wie der alte Flaubert machte sie» Paff!«, als sie die Strophe gelesen hatte.
Sie stammte aus der» Ode an eine Nachtigall«. Die Nachtigall saß in der Baumkrone, wusste nichts von Miseren und Fiaskos, sondern sang. Annik mochte den Vers, auch wenn Gedichte und Vögel nicht ihre Welt waren. Wir verabschiedeten uns um drei Uhr morgens im Bad und verbrachten die Nacht in zwei angrenzenden Zimmern, sie einem dunklen, ich einem hellen. Jeder hatte seine Geheimnisse, und jeder behielt sie für sich. Sie hatte gut daran getan, mir eine Abfuhr zu erteilen. Ich hatte gar nicht sie gemeint, und Annik war einfühlsam genug, das zu spüren. Maybritt wäre stolz auf sie gewesen.
In Bayeux setzte sie mich an der Kathedrale ab. Ich gab ihr das Foto, und sie versprach, es Séverine Laudec in den nächsten Tagen vorbeizubringen. Wir sagten adieu, tauschten einen hastigen Kuss, damit es endlich vorbei war, und sie fuhr los.
Eine Weile drückte ich mich noch zwischen den eben erst öffnenden Läden herum, dann aber hielt ich es nicht länger aus und lief zum Bahnhof.
Eine Viertelstunde lang stand ich zwischen einem stählernen Pfeiler und einer viergeteilten Abfalleimerbox und hielt die Fahrkarte in der Hand, ohne mich entscheiden zu können, ob ich sie wegwerfen sollte. Ich zählte acht Männer und Frauen in diesen fünfzehn Minuten, die sich vermeintlich absichtslos näherten, stehen blieben und leicht vornübergebeugt in die Müllbehälter spähten. Keiner nahm etwas heraus. Suchten sie nach Pfandflaschen? Oder hatte ich mir das nur weismachen lassen? Ein junger Kerl drehte sich unvermittelt zu mir und bat um eine Zigarette. Zum ersten Mal fiel mir ein, dass ich nicht mehr rauchte, schon spürte ich ein unbändiges Verlangen nach Tabak.
«Cigarette?«, fragte er noch mal, und kurz klang das wie» bicyclette«, sodass ich an das Fahrrad dachte, das noch immer in Marigny an dem Bushaltestellenhäuschen lehnte. Ich machte eine Nichtrauchergeste, die der Junge zum Lachen fand. Er fragte nach einem Euro und erklärte mir auf Englisch, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Ich glaubte ihm jedes Wort. Ich gab ihm zehn Euro, und als er verblüfft vor mir stehen blieb, gab ich ihm noch zehn, und dann noch einmal zwanzig, bevor ich mich abwandte und schnell davonging, weil ich ihm sonst mein ganzes Geld gegeben hätte.
Als der Zug Bayeux verlassen hatte, wurde er schneller und nahm immer mehr Fahrt auf, bis er durch weite, von nichts als struppigem Gras bewachsene Felder fuhr. Den Bahndamm säumten Kopfweiden. Am Stamm einer halb kahlen Birke sah ich einen großen Grünspecht sitzen, den ersten freien in meinem Leben. Ich nahm mir vor, bis Cherbourg nichts zu tun, als aus dem Fenster zu sehen und die wenigen Leute zu beobachten, die mit mir in dem Waggon saßen und unterwegs waren zu Orten, die ich nicht kannte. Immer noch spürte ich an der Hand die Stelle, an der mich der Junge mit seinen nikotingelben Fingern berührt hatte — am Handrücken, auf dem Daumenballen — , doch ich war nicht mehr angewidert davon, nur noch erschüttert von meinem maßlosen Ekel. Ich sah meinen Nachbarn in der Rambachstraße vor mir, dessen Finger genauso gelb waren. Schön waren sie gewesen, die Jahre, die wir nebeneinander hergelebt hatten, der Kiffer und der Kritzler. Aber jetzt waren sie vorbei. Gäbe es die Möglichkeit, jemandem mitzuteilen, was man für ihn empfand, ich hätte die Chance genutzt und ihm mein Herz ausgeschüttet. Leicht fühlte ich mich, fast schwerelos. Fast als wäre ich die Schwere los! Ohne dass es mir etwas bedeutete, war ich in dem Zug seit Urzeiten wieder einmal glücklich, und als ich es merkte, erschrak ich.
Eine Zeit lang saßen schräg gegenüber zwei Jungs in Jesses und Niels’ Alter und schwatzten munter drauflos. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Ein Mädchenname — Coralie — fiel immer wieder. Was mit Coralie los war, blieb mir ein Rätsel. In Jesses Klasse hatten mehrere Mädchen Drogenprobleme. Eine Klassenkameradin war wegen Prostitution von der Schule abgegangen, aber nicht Eltern oder Lehrer hatten sie dazu genötigt, sondern sie war auf einer Schüler-Onlineplattform so lange verunglimpft worden, bis sie von sich aus die Schule gewechselt hatte. Als die beiden Jungs ausstiegen, blieben sie auf dem Bahnsteig stehen und starrten so regungslos auf ihre Handys, als wäre ihnen über Facebook bedeutet worden, sich erst wieder zu bewegen, wenn der Mittagszug nach Cherbourg abgefahren war.
Hätte ich eine weitere Spraydose gehabt, vielleicht wäre ich selbstvergessen darangegangen, auf die Sitze zu sprühen, was ich vor den Fenstern sah. Der Zug fuhr an einer Fabrik vorbei, auf deren Höfen und Parkplätzen kein Mensch zu sehen war. Wohin waren alle verschwunden? An einer Tankstelle standen Fernfahrer vor ihren von toten Insekten geschwärzten Zugmaschinen und rauchten. Mit einer zusammengerollten Zeitung hieb einer seinem Nebenmann in den Nacken, und der Geschlagene lachte und warf die Arme in die Luft. Fahrt, dachte ich, fahrt los und verschwindet! Über ein Feld lief ein Fuchs. Lauf, dachte ich, lauf!
Bei Montmartin-en-Graignes verließ ich Calvados und fuhr über die Vire ins Département Manche. Irgendwo an dieser Grenze gab es eine Reihe Brücken, die ich für Kevin hätte zeichnen sollen. Ein silbergrau schimmerndes Band, das in weiten Bögen aufs Meer zulief — wie in einem Gemälde von Sisley kam mir die Vire und kam ich mir selbst vor, als der Zug über die Brücke rollte. Wenig später hielt er in Carentan. Aber man sah nicht viel von dem Städtchen, in dem Anniks Liebhaber wohnte. War sie je hier gewesen und hatte herauszufinden versucht, wie Serge lebte? Vielleicht arbeitete er am Hafen, in einem der zu Büroglaskästen umgebauten Speicherhäuser. Dutzende Eisenbahnergärten lagen längs der Gleise und erstreckten sich bis zu den Flussauen hinunter. Von Carentan waren 1944 nur Schuttberge übrig geblieben. Deutsche Panther- und Tiger-Panzer schossen die Häuser zu Klump, in denen sich alliierte Fallschirmspringer verschanzten, Steven Spielberg hatte es in Der Soldat James Ryan nachzustellen versucht. Auf dem Bahnsteig stand eine Gruppe kleiner Kinder mit zwei Erzieherinnen und wartete, dass der Zug hielt. Unter ihnen war vielleicht auch Serges Tochter oder sein kleiner Sohn. Es wurde laut in dem Waggon, die Kinder schnatterten und plapperten, und die zwei Frauen versuchten, die Meute zu einem Lied zu animieren, um von der allgemeinen Aufregung abzulenken, gaben es aber bald auf. Vielleicht war eine der beiden Serges Frau.
Der Zug fuhr durchs Marschland des Parc des Marais. Die Größe des Himmels ließ die Meernähe erahnen, und auch die Häuser duckten sich tiefer und tiefer unter dem Wind und ballten sich zu immer kleineren Siedlungen. Die beiden Frauen, ihre Kleinen und ich erreichten Valognes. Kinder und Erzieherinnen stiegen aus. Mit einem Mal war es so still, dass ich mir selber leer vorkam. Ich wünschte mir den Lärm zurück, das Lachen und Singen, und weil sich nichts davon wiederherstellen ließ, riss ich wenigstens das Klappfenster auf.
Im Bahnhof von Cherbourg-Octeville blieb ich verwirrt im Waggon sitzen, weil ich nicht gewusst hatte, dass die Stadt inzwischen einen Doppelnamen trug. Ein Schaffner ging durch den Zug, schon von Weitem rief er mir zu, hier sei Endstation. Froh, nicht allein zu sein, stieg ich mit ihm aus. Für sein schmales Gesicht hatte er einen gewaltigen Schnauzbart. Mit wippendem Bart zeigte der Schaffner zu einem Ausgang unterhalb einer großen Uhr. Dort ging es zum Hafen, zu den Englandfähren und Fährbüros. Es war halb zwei, der Schweiß brach mir aus.
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