Und auch sie fragte nicht: Richard, wie ist es dir ergangen? Er hätte mit den Schultern zucken müssen, ein Rafftempo, ein schneller Vorlauf und ein langsamer Rücklauf und wo anfangen? dann hatte seine Frau endlich ihren Suppenteller ausgekratzt und den Löffel klirrend (vielleicht zitterte sie?) auf das Porzellan gelegt und fragte: Wie viele Tage bist du gereist? Darauf war eine knappe Antwort möglich: Vierzehn auf dem Schiff und drei Tage von Hamburg an den Bodensee. Das schien ihr nicht übermäßig lang, sie machte nicht den Eindruck, als wolle sie ihn deshalb bedauern. Sie nahm ihn mit in ihr Dorf, das war eigentlich nicht vorgesehen. Die Hilfsorganisation, die ihm seine Reise bezahlt hatte, die ihn an den Bodensee transportiert hatte, hatte ihm ein Merkblatt mitgegeben, in dem es hieß, daß er sich sofort nach seiner Ankunft bei der entsprechenden Stelle an dem zukünftigen Wohnort zu melden hätte. Kornitzer sagte es Claire, aber davon wollte sie nichts wissen. Die Hilfsorganisation läuft nicht weg, da kannst du auch noch morgen hin. Kornitzers Gepäck sollte nachgeschickt werden mit einem Fuhrwerk, Claire hatte mit einem bäuerlich wirkenden Mann am Bahnhof verhandelt, in einer Stunde vielleicht solle er sie abholen, und so kam der Mann ins Gasthaus. Kornitzer und seine Frau halfen ihm, die Gepäckstücke aufzuladen. Sich gemeinsam zu bücken und zu recken, zu heben und zu schieben, das war die erste gemeinsame Handlung, die den Grund hatte, eine Privatheit herzustellen. Einen Vorhang, der sich vor das Paar schob, als es sich in Claires geblümtem Zimmerchen im Haus 6 eines Weilers mit dem Namen Bettnang zurückzog, in dem ihre einzigen geretteten Kostbarkeiten ein Plattenspieler und eine Schreibmaschine waren. Die Schreibmaschine glaubte er noch aus Berlin zu kennen, sie hieß „Erika“, und ihre Hebelmechanik hatte unverdrossen den ganzen Krieg und die Evakuierung überstanden. Hut ab vor „Erika“, und eine der ersten triumphierenden Bemerkungen, die Claire ihrem zurückgekehrten Mann gegenüber machte, war: Ich habe eine ganze Menge Farbbänder gehortet, Farbbänder waren angeblich nicht kriegswichtig, oder man hatte vergessen, sie als kriegswichtig zu erklären. Und sie nehmen sehr wenig Platz in einem Fluchtgepäck ein. Wir können also Anträge und Briefe schreiben, die eine gute Form haben. Darauf wußte er nichts zu sagen, er nickte nur, er sah, wie vorausschauend sie gehandelt hatte. Er hatte auch überlegt, was er mitbringen sollte von der langen Reise. Kaffee? Tabak? Süßigkeiten? Südfrüchte? Dokumente seiner Tätigkeit? Aber die Bestimmungen änderten sich fast jeden Tag, was heute erlaubt war, war aus politischen oder hygienischen Gründen (oder aus praktischen Gründen, die sich hinter ideologischen oder ganz unerfindlichen Gründen verbargen, aus Gründen der Zoll-Erfassung vielleicht) plötzlich verboten. Niemand wußte es. Was sprach gegen ein Säckchen Zucker? Was sprach gegen die noch vor einem Monat erlaubte Menge von Parfum und Tabak? Man stand wie ein Idiot da, und vielleicht war genau das der Sinn der sich dauernd widersprechenden Maßnahmen.
Hier ist der Waschtisch, sagte Claire, ich habe kein fließendes Wasser. Den Schrank sah er selbst, auch das Bett, schmal, fast jungfräulich sah es aus, die wackligen Stühle. Er sah in Claires Gesicht eine Scham, eine Kränkung. Und er sah auch ihre Handbewegung, die ein bißchen nonchalant war, daran erkannte er ihr früheres Selbstbewußtsein: Bitte, so ist es nun mal, so ist es gekommen, er sah das Licht der kleinen Nachttischlampe und das lächerlich dünne Bändelchen, mit der man sie an- und ausknipsen konnte. Und das Paar, das erst wieder lernen mußte, ein Paar zu sein, knipste sie aus. Dann war es dunkel, und die Dunkelheit war ein Tasten, eine Blindenschule des Empfindens, eine Klippschule, ja wirklich nur ein Tasten und Atmen. So waren sie an diesem ersten Tag nicht weiter gekommen als bis zur ersten Empfindung „Bist du’s, bist du’s wirklich?“ und zur Bestätigung: „Ja, du bist’s.“ Vielleicht war darin schon eine leise Überforderung. Es war nicht abzusehen, wie und wann die Familie je wieder zusammenkommen könnte. Noch handelte es sich um zwei versprengte Menschen, die von ihren Menschenkindern kaum etwas wußten.
Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg in die Stadt, die gewundene Straße entlang, vorbei an Wiesen und allein gelegenen Höfen, immer die Bergketten im Blick, die Fältelungen der Gebirgsmassen, Wolkenbänder, die darüber festgezurrt waren. Als er gut eine halbe Stunde gegangen war, kam Quellbewölkung auf, schneeweiße Wolkenhalden schoben sich ineinander, ein plastisches, haptisches Wolkengerangel mit ganz ungewissem Ausgang. Fuhrwerke überholten ihn und der Postbus, er wollte aber gehen, wollte so lange gehen, bis vor ihm an einer Straßenbiegung der See auftauchte. Das Grau der Luft, das sich wie ein zarter Schleier über die Wasserfläche breitete. Er ging sechs Kilometer immer bergab, es war ein Sacken in den Kniekehlen, etwas gänzlich ungewohnt Körperliches, das ihm gefiel, etwas Wanderburschenartiges. Und er war doch ein Mann Mitte vierzig, der schon sehr viel, zu viel erlebt hatte.
Die innere Stadt, das hatte er bei seiner Ankunft gar nicht recht beachtet, war eine Insel, die durch die lange Brücke mit dem festen Land, dem Bauernland, verbunden war. Am Ufer Villen, Gartenanlagen, eine feine Gegend. Er sah auch gleich, daß viele der Villen von französischen Offizieren und ihren Dienststellen requiriert worden waren, Wachposten standen davor. Dann jenseits der Brücke die Holzschindelhäuser, die überkragenden oberen Geschosse, überkragende Dächer mit Schwalbenschwanzgauben. Die Stadt Lindau tat so, als wäre sie ein Ding außerhalb von Raum und Zeit. Dieser Gedanke gefiel ihm, aber er konnte ihn nicht weiterdenken und keine Schlüsse daraus ziehen. Etwas lullte ihn ein, und es (ja, was war es?) regte ihn gleichzeitig auf. Er betrachtete Erker, die steinernen Laubengänge, die geruhsame Giebeligkeit und die steilen Treppen, die zu Weinstuben führten, in denen vermutlich sechzig Jahre nichts verändert worden war, altdeutsche behäbige Gemütlichkeit, nur die Kellnerinnen, die vor den Weinstuben auf der Straße mit verschränkten Armen schwatzten, waren jünger geworden, und Kornitzer sah sie mit Wohlgefallen an. Und noch etwas sah er und konnte sich keinen Reim darauf machen. Er hatte von den Zerstörungen der Städte in Deutschland gelesen, von Trümmerwüsten, von Feuerstürmen. In dieser Stadt sah er kein einziges zerstörtes Haus, nicht einmal ein Dachziegel schien von einem Dach gefallen zu sein. Er mußte Claire danach fragen, wenn er wieder in Bettnang war.
Er fand den Weg zur UNRRA, der Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, die für ihn zuständig war, leicht. Das Büro war im ersten Stock eines breit gelagerten Hauses mit einem Erker an der Seite der Insel, die dem festen Land zugewandt war, in der Zwanzigerstraße. Auf Stühlen in einem Korridor saßen einige junge Männer, lümmelten sich eher, dachte Kornitzer, sie sprachen untereinander eine weiche melodische Sprache, sahen kurz auf, als er sich zu ihnen setzte, als wollten sie sagen: Was will der denn hier? Es schienen Polen zu sein oder Ukrainer, Zwangsarbeiter oder aus den Konzentrations- und Arbeitslagern Befreite, die hier in der schönen Stadt gestrandet waren und irgendwohin gebracht werden mußten oder wollten, zu übriggebliebenen Menschen, die sie erwarteten, wie Claire ihn erwartet hatte, oder zu einem ganz unwägbar neuen Leben, für das sie votiert hatten in Ermangelung eines anderen, das vernichtet worden war, wie er hierher gebracht werden wollte, in Ermangelung des früheren Berliner Lebens, von dem nur Trümmer übriggeblieben waren. (So hatte Claire es ihm angedeutet.) Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau mit einem starken Akzent, den er nicht orten konnte, flüsterte, eher defensiv: Der Nächste bitte. Zwei der Männer erhoben sich. Nur einer, sagte die Frau und reckte zum besseren Verständnis den rechten Daumen in die Höhe. Freund kann Deutsch schlecht, erklärte einer der Versprengten und schob sich mit in das Zimmer. Die Frau ließ die Tür offen, es sah so aus, als wolle sie nicht mit zwei fremden Hilfsbedürftigen in einem geschlossenen Raum sein. Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden das Zimmer mit einem Formular verließen, auch bei den nächsten Bittstellern blieb die Tür offen. Dann gab es eine lange Pause, in der die Tür für eine ganze Weile geschlossen blieb. Zuletzt saß Kornitzer mit einem jungen Mann zusammen, dem ein oberer Schneidezahn fehlte und der eine flinke, nervöse Zunge in die Lücke bohrte. Er sagte — zischelte eher durch die Zahnlücke —, er sei einfach weg-, von den Eltern weggeholt worden, sein Dorf sei umstellt worden, die Kirchenbesucher seien festgenommen worden, alles, was jung war, er machte eine heftige Handbewegung über die Schulter hinweg, es war eine verächtliche Handbewegung, alles weg nach Deutschland. Das sei ganz schwer gewesen für die Eltern. Ohne Sohn, ohne Hilfe auf dem Hof. Und dann versank er in ein finsteres Schweigen, in das Kornitzer nicht durch eine unangemessene Frage eindringen wollte.
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