«Deine Tochter macht mich alle«, ruft sein Schwager ihm entgegen. Den Tisch haben die beiden beiseitegeschoben, sitzen nebeneinander vor dem riesigen Flachbildschirm und sind vor allem damit beschäftigt, den anderen bei der Bedienung der Spielkonsole zu behindern. Fünf zu zwei lautet der Score von ›Flippa‹ gegen ›Big Joe‹. Obwohl nur die Figuren auf dem Bildschirm kämpfen, ist João in seinem ärmellosen Shirt bereits schweißgebadet. Früher hat er viel trainiert, jetzt geht er auf die fünfzig zu und wird füllig um die Hüften. Mit der Schulter versucht er Philippa zu stören, aber deren Figur setzt zum Sprung an, steigt hoch in die Luft und streckt den Gegner mit einer Reihe schneller Tritte nieder. Eine triumphierende Melodie zeigt das Ende des Kampfes an. João tut es seiner Figur nach und rollt schwerfällig auf den Rücken.
«Little bitch«, keucht er auf Englisch und streckt die Arme von sich.
Im Sitzen deutet Philippa eine Verbeugung an und sieht ihrer Figur auf dem Bildschirm merkwürdig ähnlich. Shorts und weißes Unterhemd, schlanker als Hartmut sie vom letzten Urlaub in Erinnerung hat. Weil sie keinen BH trägt, drücken die Spitzen ihrer kleinen Brüste gegen den Stoff.
«Du kämpfst wie ein Teddybär. «Sie steht auf, trinkt einen Schluck Wasser und lässt sich nicht anmerken, dass die Anwesenheit ihres Vaters sie stört. Früher in Rapa haben João und sie ganze Nachmittage an der Tischtennisplatte verbracht, und nicht nur hat ihr Onkel sie nie gewinnen lassen; keinen Punkt hat er ihr geschenkt. Wenn Philippa weinen musste vor Frustration, ist sie nach oben gegangen, und João setzte sich auf die Terrasse und rauchte eine Zigarette. Im richtigen Leben werde ihr schließlich auch nichts geschenkt, meinte er. Maria hat ihn gehasst dafür, aber Philippa ist nach zehn Minuten wieder hinuntergegangen, um Revanche zu fordern. Im Tischtennis hat sie bis heute nicht gegen ihren Onkel gewonnen. Den ersten Sieg, sagt sie, peile sie für das Jahr 2010 an.
«Ich muss in die Praxis. «Im Liegen wischt sich João den Schweiß von der Stirn.
«Feigling.«
«Verklopp deinen Vater. Lass ihn nicht noch mal davonkommen wie gestern. «Am Abend waren sie zu dritt in den Docas, haben gegrillten Fisch gegessen, und João hat gelacht über den Zwischenfall auf dem Rastplatz. Zwei ältere Herren prügeln sich, einer davon Professor! Ob man das neuerdings unter angewandter Philosophie verstehe? Mit einer abwehrenden Geste setzt sich Hartmut aufs Sofa. Die halbe Nacht hat er wach gelegen und die Szene im Kopf durchgespielt, und noch immer findet er kein Wort für sein Befremden. Wie die Frau ihrem Mann tröstend übers Gesicht gestrichen hat. Ihre hilflose Empörung. Ballt er die rechte Hand zur Faust, schmerzt es wie von einer inneren Schwellung, aber wenn er ehrlich ist, gilt sein Befremden weniger dem, wozu er sich hat hinreißen lassen, als der stillen Genugtuung, die er empfindet.
Philippa setzt ihrem Onkel den nackten Fuß auf die Brust und macht ein ernstes Gesicht.
«Ich hab gewonnen. Du hast verloren. Weil du zu fett bist.«
João nickt.
«Wann kriegst du endlich richtige Titten?«
Nicht zu fest und nicht zu locker tritt sie ihn in die Seite und lässt sich aufs zweite Sofa fallen. Die beiden Figuren auf dem Bildschirm verharren reglos. Draußen rufen die Arbeiter einander Anweisungen zu. Die Sonne steigt höher, die Luft wird wärmer, und Hartmut hofft, dass die beiden nicht seinetwegen ihr Spiel beendet haben.
«Ich hab einen Tisch in deinem Lieblingsrestaurant reserviert«, sagt João so langsam wie immer, wenn er sich auf Portugiesisch an seinen Schwager wendet. Manchmal sprechen sie Englisch.
«Das mit den Kacheln?«
«Das mit den Kacheln, dessen Namen du dir nicht merken kannst. Für halb neun. Wie wird man Professor mit so einem Gedächtnis?«
«Man braucht gute…«Mitarbeiter, will Hartmut sagen und muss eine Weile nach dem portugiesischen Wort suchen.»… Assistência.«
«Vermutlich. «João wirft Philippa einen Blick zu, aber statt diesen zu erwidern, zielt sie mit einem Kissen nach ihm und sagt:»Geh duschen. Du stinkst.«
«Ich rieche wie ein Mann«, sagt João im Aufstehen.»Das ist ein Unterschied.«
«Nicht für mich.«
Was ihr Onkel aus dem Flur antwortet, scheint eine Grobheit zu sein, die Philippa stutzen lässt, bevor sie lachend die Augen verdreht. Die Badezimmertür wird geräuschvoll geschlossen. Philippa betrachtet ihre Hände, und Hartmuts Blick fällt auf weitere Stücke aus Joãos Sammlung alter Messer. Im Wohnzimmer hängen sie in einem vergoldeten Rahmen über dem Kamin, ansonsten sind die Wände kahl. Was die Räume wohnlich macht — weinrote Vorhänge und japanische Papierlampen — geht auf die Initiative der lebenslustigen Physiotherapeutin zurück, mit der João seit vielen Jahren zusammenlebt, ohne ans Heiraten zu denken. Da kann Lurdes noch so viele Rosenkränze beten.
«Wieso sammelt er eigentlich diese hässlichen Dinger?«, fragt Hartmut. Maria und ihr Bruder haben nicht viel mehr gemeinsam als den Nachnamen und die anhaltende Verwunderung darüber, wie eng sie miteinander verwandt sind. Das war schon so, als sie noch in zwei benachbarten Zimmern über dem elterlichen Restaurant gewohnt haben. Unten in der Mouraria, in deren verfallende Häuser jetzt die Chinesen aus Macau ziehen.
«Keine Ahnung. «Philippa sieht nicht hin.»Du wolltest wahrscheinlich ›assistente‹ sagen eben. Assistência heißt Beistand oder Hilfe. Assistência médica, assistência religiosa und so weiter.«
«Richtig. Obwohl man nicht wissen kann, welchen Beistand ich künftig brauchen werde. Gerade habe ich mein zu erwartendes Ruhegehalt ausgerechnet und bin etwas ernüchtert. Ich dachte, es würde mehr rauskommen.«
Unter der Dusche beginnt sein Schwager zu singen. Hartmut fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. Seinen neuen Bart findet João cool, und so verschieden wie die beiden sind, lässt das für Marias Reaktion nichts Gutes erwarten. Nervosität macht sich in ihm breit. Sobald er still sitzt, spürt er den ungerichteten Drang, etwas zu tun.
«Der Typ hat angefangen, oder?«, sagt Philippa, ohne auf seine Worte einzugehen.»Gestern auf dem Rastplatz.«
«Er hat angefangen, und wir haben es ihm nicht leicht gemacht, wieder aufzuhören. Ich jedenfalls nicht.«
«Ich auch nicht. «Mit einem Seufzer legt sie sich auf das Sofa und stützt den Kopf in die linke Hand.»Ich hab die ganze Nacht drüber nachgedacht. Manchmal werde ich wütend innerhalb von zwei Sekunden. Seit ich Gabriela kenne, ist es besser geworden, aber…«
«Das hast du von mir.«
«Es sitzt hier. «Mit zwei Fingern zeigt sie auf die Höhe ihres Zwerchfells.»Von dir hab ich es bestimmt nicht. Du hast immer gesagt, man kann in Ruhe über alles reden. Notfalls durch geschlossene Türen.«
Sein Blick bleibt an dem kleinen Körbchen mit Gummiknochen und Bällen hängen. Den dazugehörigen Hund hat Fernanda mitgenommen, als sie für drei Tage zu ihrem Vater gefahren ist. Ein nervöser Kläffer mit Rattenzähnen, der jedes Mal Amok läuft, wenn das Telefon klingelt. Durch die geschlossene Tür mit seiner Tochter zu sprechen war während ihrer Pubertät eine vielgeübte Praxis.
«Hast du noch Erinnerungen an deine Arnauer Großeltern?«, fragt er.
«Natürlich. Wieso?«
«Was für Erinnerungen?«
«Diese und jene. Wie es unten in der Werkstatt gerochen hat. Ich weiß noch, wie du gesagt hast: Dein Opa kann eher was mit Enkelsöhnen anfangen, der will jemanden zum Heimwerken. Was ich gerne gemacht hätte, aber das hat wohl nicht in sein Weltbild gepasst. An die Arnauer Oma denke ich häufiger. An den süßen Tee. Sie war überhaupt süß. «Philippa lächelt über ein Bild, das offenbar vor ihrem inneren Auge vorbeizieht. Schweiß oder ein Deostift haben eine glänzende Spur in ihrer Achselhöhle hinterlassen. Schon oft hat er sich vorgestellt, ihr davon zu erzählen; hat sich gefragt, wie es ihr Bild von ihm verändern würde. Will man als Tochter so etwas wissen?
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