Als ich nach einiger Zeit einen Blick aus dem Fenster des Lehrerzimmers warf, sah ich im Hof eine eigenartige Versammlung. Das übliche Zonenspiel hatte sich in eine Art Sitzkreis verwandelt. In der Mitte lag ein Schüler auf dem Rücken. Dann, nach einer Weile, drehte er sich auf die Seite und übergab sich.
Ich stand auf und rannte hinaus.
Die Schüler zerstreuten sich sofort, als sie mich kommen sahen. Ich durchschritt ihre Zonen, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Sie maulten und fluchten leise und gingen davon. Robert Tätzel lag im Gras. Ich berührte ihn an der Schulter, er zuckte zusammen und blickte mich an. Ich half ihm auf.
— Was macht ihr denn? fragte ich ihn.
Sein Atem stank nach Alkohol.
— Keine Ahnung, sagte er und trat ein paar Schritte zurück.
— Was war das?
— Was weiß ich! schrie er und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
Dann machte er noch ein paar Schritte von mir fort. Dr. Rudolphs Stimme ertönte von der Treppe her.
— Tätzel!
Er ging direkt auf den Jungen zu. Robert wich automatisch zurück, bis er mit dem Rücken die Mauer berührte.
— Was zum Teufel haben wir vereinbart?! schrie Dr. Rudolph. Hm? Was haben wir vereinbart?
Robert nickte. Dr. Rudolph machte einen Schritt nach hinten, atmete entrüstet aus und versetzte der Luft vor sich einen Handkantenschlag.
Dann schien er wieder in die Realität zurückzukehren, wandte sich mir zu und sagte:
— Sie werden …
Er gestikulierte, aber der Satz wollte sich in dieser Form nicht beenden lassen. Also drehte er sich wieder zu Robert um und sagte:
— Der Herr Setz wird dir helfen. Die Telefonkabine im Foyer. Und erzähl diesmal deinen Eltern alles. Hörst du? Alles.
Er schaute mich an, als erwarte er ein Nicken. Ich gab es ihm. Robert blickte zu Boden. Einen kurzen Augenblick lang registrierte ich die ungewöhnliche Art von I-Kindern zu weinen — es sah unheimlich theatralisch aus. Ich hatte es in den letzten Wochen schon öfter beobachten können, aber erst jetzt fielen mir die Gemeinsamkeiten auf. Ein Gefühl von Genugtuung und faszinierter Kälte breitete sich in mir aus. Also auch du, dachte ich. Wie die Maske eines römischen Histrionen, der Mund auberginenförmig, die Augenbrauen zusammengezogen. Eine No¯-Maske. Ich sagte:
— Na komm, ist schon wieder gut. Jetzt gehen wir mal …
Und ich legte eine Hand auf eine unsichtbare Schulter, etwa einen halben Meter von der echten, noch immer leicht bebenden Schulter des Jungen entfernt.
Robert Tätzel ging voraus, ich folgte ihm. Bisher war mir noch kein Schüler aufgefallen, der sich im Haupthaus in der Nähe der Telefonkabine aufgehalten hätte. Soweit ich wusste, besaßen ohnehin alle Handys. Robert ging die paar Stufen vom Hof hinauf ins Gebäude und dann den Korridor entlang, der zum zentralen Treppenhaus führte, als träte er eine Strafe an. Als befände er sich auf dem Weg zu einem Strauch, von dem er die Gerte schneiden soll, mit der er gleich gezüchtigt werden wird. Ich hätte Robert gerne gefragt, was es mit der Telefonkabine auf sich habe. Aber er lief so still und zielstrebig vor mir her, dass ich nicht wagte, ihn anzusprechen.
Vor der Telefonkabine zog er seine Brieftasche hervor und nahm eine Karte heraus. Mit einem milden, aber verzweifelten Sind-Sie-jetzt-zufrieden? — Blick hielt er sie mir hin. Ich nickte nur, verwirrt.
Er verschwand in der Kabine, steckte die Karte ins Gerät und hob den Hörer ab. Er klemmte ihn sich zwischen Wange und Schulter und wählte. Eine alte Wählscheibe. Währenddessen wischte er sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Fuhr sich mit der Hand durchs Haar, boxte, immer noch stumm, in Zeitlupe gegen einen Widerstand in der Luft. Dann begann er zu sprechen. Und ich bemerkte erst an dieser Stelle, dass man von außen nicht verstehen konnte, was drinnen gesagt wurde. Das war in Ordnung, fand ich. Aber ich wusste nicht, ob Dr. Rudolph … Unterwürfiges kleines Vieh, schimpfte ich mich. Und ich wandte mich ab, um nicht noch länger vor der transparenten Tür der Telefonkabine zu stehen und hineinzugaffen.
Nach etwa fünf Minuten kam Robert heraus und hielt mir die Telefonkarte hin. Ich streckte die Hand danach aus, zog sie aber schnell zurück, und er ging wieder auf seine gewöhnliche Distanz, etwa drei Meter.
— Sie wissen überhaupt nicht, wie das funktioniert, oder? sagte er.
Ich nahm die Hände aus den Hosentaschen.
– Äh, um ehrlich zu sein –
— Tsss, machte er.
— Was haben deine Eltern gesagt? fragte ich.
Er lachte.
— Okay, sagte ich. Dann frage ich dich etwas anderes. Relokationen. Wie oft passieren die eigentlich?
Roberts Augen weiteten sich, er blickte sich um.
— Ich hab keine Ahnung, sagte er.
— Warum haben sie dich geschlagen?
— Sie haben mich nicht geschlagen.
— Okay, aber warum haben sie dich …
— Weiß ich nicht, okay?
— Schon gut, Robert, du musst nicht laut werden.
– ’tschuldigung.
Er verschränkte die Arme und blickte zur Seite.
— Ah, da seid ihr! sagte Dr. Rudolph. Ich musste nur ein Telefongespräch beenden. Jetzt geht es. Danke, Herr Setz, ich übernehme von hier an.
— Aber —, sagte ich.
— Robert, bedanke dich beim Herrn Magister Setz, dass er dir geholfen hat.
— Danke, sagte Robert, ohne mich anzusehen.
— Keine Ursache. Aber ich –
— Kommen Sie einen Augenblick, sagte Dr. Rudolph zu mir und ging mit mir einige Schritte durchs Foyer.
— Das sind nur Abhärtungsspiele, sagte er. Im Grunde harmloses Zeug. Aber es war schon richtig, dass Sie dazwischengegangen sind. Diesmal war es noch eine milde Form. Wissen Sie, das veränderte Proximitätsverständnis der Schüler ist auch …
— Und da ist jedes Mal Alkohol mit im Spiel? fragte ich.
— Herr Setz, sagte Dr. Rudolph und fasste mich an der Schulter. Es ist eben eine inhomogene Klasse, auch was das Alter betrifft. Da passieren solche Sachen.
— Das Problem ist, dass sie merken, dass sein Zonen… Proximitätsverständnis; dass es abnimmt.
— Edison hat Hunderte Versuche gebraucht, um seine Glühbirne richtig hinzubekommen. Was glauben Sie, wie oft sie ihm schon nach wenigen Minuten durchgebrannt ist. Das Equilibrium war noch nicht gefunden.
— Ja, sagte ich, aber –
— Und die Natur braucht eben auch ihre Zeit, damit müssen Sie sich abfinden. Wir können das natürlich bedauern, das heißt, diese individuelle Entwicklung, aber insgesamt ist das Bild doch ein positives, da es sich bei einigen damit geborenen Individuen doch hält. Bis ins hohe Alter.
Dr. Rudolph stand vor mir, und etwas spiegelte sich in seiner Brille, das aussah wie das Gespenst eines Wasserstrahls, aber ich wollte mich nicht umdrehen, um nachzusehen, und außerdem redete er schon weiter:
— Sie verstehen nicht, worauf es ankommt, Herr Setz. Ich meine, Sie sind ein begabter Tutor in Ihrem Fach. Und die Schüler mögen Sie, soweit ich das beurteilen kann.
Dann ging Dr. Rudolph mit dem Schüler Tätzel davon.
Und ich ging ihnen nach.
Nicht auffällig. Eher wie ein Schauspieler in einem Detektivfilm: Man konzentriert sich einfach auf die Kamera, die einem von hinten folgt, und denkt nicht an die, denen man auf der Spur bleiben soll.
Ich stellte mich vor dem Direktorzimmer auf. Was sollte mir schon passieren, wenn sie mich hier entdeckten? Ich hatte Kopfschmerzen, aber merkwürdigerweise machten sie mich unternehmungslustig. Die Mittagsstunde hatte seit dreizehn Minuten begonnen, wie mir ein Blick auf meine Armbanduhr versicherte. Ich schüttelte den Kopf und lachte, als hätte die Uhr einen Scherz gemacht.
Ich stand da und versuchte, meinen Körper ganz stillzuhalten. Ein wenig hatte ich das Gefühl, betrunken zu sein. Sektbläschen stiegen in meinem Verstand auf und machten alles beschwingt, tänzerisch …
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