MEINE ERSTEN ANGENEHMEN Kindheitserinnerungen spielen in der Küche. Sie ist mit großen weißen und schwarzen Steinplatten ausgelegt. Töpfe klappern. Gerätschaften scheppern. Messer und Gabel klirren. Ich bin eines Tages in die Küche berufen. Die Köchin hat ihre Ellenbogen auf der Blechablage aufgestellt, auf der tagsüber gehackt, geschnippelt, geklopft, gepudert wird. Die Köchin hält die Hände gefaltet. Vor ihr auf der Plattform steht der vom Vogel angekündigte Karton. Die Küchenfrau nähert sich mit einem Messer in der Faust, beschwichtigt mich mit einem gutmütigen Lachen aus tiefer Brust. Nur keine Angst. Sie schneidet mit dem Messer die Paketschnur entzwei. Befreit das Paket von der Schnur, dem Packpapier. Hebt aus dem Packpapier ein zweites Paket. Übergibt an mich einen beigelegten Umschlag, mit Zeichen versehen, die ich nicht befähigt bin als Buchstabengroßschrift zu erkennen. Buchstabe zu Buchstabe gereiht, stehe dort MEINEM SOHN geschrieben, wird mir gesagt. Die dicke Köchin zerschneidet die dünnere, zweite Schnur am zweiten Karton, um aus ihm hervor das umwickelte Geheimnis zu heben. Der Vogel hat die Inhalte weise vorhergesagt. Wie recht der Vogel gehabt hat. Welch eine Mühe sich da gegeben wurde, welche Mühe. Die Schokolade ist nicht in kunterbuntes Geschenkpapier gewickelt, sie befindet sich in mattbrauner Verpackung. Das Papier stammt aus dem Käseladen um die Ecke. In großen Bögen liegt es neben der Waage gestapelt und dient der Verkäuferin als Einpackpapier. Ich bemerke das Papier Jahrzehnte später, bei meiner ersten vagen Stippvisite im Ort des Kinderheimes. Der Anblick löst in mir Mutterfühlen aus. Eine innere Stimme singt: Ein Gefühl ist nichts als ein Gefühl ein Gefühl ein Gefühl.
Eine junge Frau aus Baden-Württemberg hat ihr neugeborenes Baby lebend in den Gefrierschrank gelegt, wo es Angehörige Wochen später fanden. Sie erklärte, die Schwangerschaft nicht bemerkt zu haben. Die Frau aus Horb am Neckar sei der Meinung gewesen, das Neugeborene sei tot, teilte die Polizei am Mittwoch mit. Die Obduktion ergab jedoch, dass das Kind lebensfähig war. Den Angaben zufolge zeigte sich die 20-Jährige am vergangenen Sonntag selbst bei der Polizei in Horb an, nachdem der tote Säugling gefunden worden war. Gegen die Frau werde wegen des Verdachts des Totschlags ermittelt, sagte der Polizeisprecher. Sie wurde in eine Haftanstalt mit angeschlossener Klinik gebracht. Der Polizei zufolge hat die Frau das Kind vor drei bis vier Wochen in ihrer Wohnung bekommen. Ihr Freund, mit dem sie dort lebt, sei damals nicht zu Hause gewesen. Das Motiv der Tat ist noch unklar. Wir haben den Eindruck, die beiden wollten noch kein Kind, sagte der Polizeisprecher. Die junge Frau und ihr Freund sind berufstätig. Weitere Einzelheiten wurden zunächst nicht bekannt.
DIE KÖCHIN PACKT DAS AUSGEPACKTE wieder ein, nimmt das Paket mit beiden Händen, streckt es mir hin. Ich nehme das Päckchen an mich, halte es in meinen Armen. Ich drehe meinen steifen Körper, einem Baukran gleich. Ich tapse Richtung Ausgangstür, balanciere das Paket wie das mit Wasser gefüllte Aquarium, laufe über das Parkett des großen Essensaals, spüre die Last mit jedem Schritt, strebe der großen Treppe zu, die im weiten Bogen nach oben führt, steige Stufe für Stufe, bin dann im langen Flur, an dessen Ende sich mein Zimmer befindet. Ich schwanke nicht ob der Last. Ich schwanke, von innerer Ergriffenheit verunsichert, drohe die Treppenstufe rückwärts herunterzufallen, was eine der Erzieherinnen zu verhindern weiß. Sie hält mich, fängt mich auf, umarmt mich, führt mich die Stufen herunter in die Empfangshalle. Ich darf den Karton abstellen, mich an den lackierten Empfangsglanztisch setzen. Der Tisch besitzt eine dicke Glasplatte, in seiner Mitte steht die große Obstschale aus Keramik, die kein Kind des Heimes berühren darf. Meine Gefühle sind zu schwach und zu unausgebildet, um den Trug der Frauen zu wittern. Das Kind ahnt beim Anblick seines Mutterpaketes nicht, dass die Köchin und die Erzieherin hinter der Mutterpaketsendung stecken. Das Kind glaubt an jeden Zipfel Rettung. Selbst wenn das Kind nicht weiß, was eine Mutter ist, das Kind hat ein Mutterpaket zugeschickt bekommen, also ist da Mutter. Das Kind ist schrecklich gewesen. Das Kind ist zu besänftigen. Das Kind wird nicht mehr quengeln, auch ein Paket von der Mutter haben zu wollen, die anderen Kindern im Heim Pakete schickt, nur diesem einen Kind nicht.
Die Köchin heißt Frau Blume. Sie ist herzlich angetan und sieht nicht ein. Sie steckt hinter dem Plan, mich mit dem Mamapaket zu beschenken. Ich sitze am Fenster, an dem die Köchin vorbeimuss, will sie ins Heim, geht sie vom Kinderheim aus in den Ort hinein, einholen, kehrt sie mit vollen Netzen ins Haus zurück. Zweimal täglich ist sie im Wald unterwegs, morgens als Erste von ihrem Daheim aus, abends auf dem Nachhause. Wenn es im Winter noch düster ist, spätnachmittags, wenn es in der Winterjahreshälfte zu dämmern beginnt. Immer muss sie in den Wald hinein, sagt sie, in dem es dunkel ist, in dem die Äste knarren und ächzen, sich wie Gespenster benehmen. Im Winter, sagt sie, ist sie flinker daheim, wenn die Äste wie Peitschenhiebe knallen und sie vorantreiben. Ich sehe mich zu ihr in die Küche geladen, ihr behilflich zu werden, immer häufiger, bald täglich in ihre Küche beordert.
Ich nehme dich eines Tages mit, verspricht sie mehrmals. Ich sitze am Fenster. Ich schaue auf das Wäldchen, das zwischen den Stämmen seltsame Schatten wirft, vor denen es mich graust. Die Köchin schaut zu mir herauf, lächelt mir zu, winkt zu mir hin, wenn sie die Hand frei hat. Ich schmecke Salz auf meinen Lippen. Ich weiß nichts über die Herkunft des Salzes in der Luft. Ich weiß nichts vom Meer hinterm Wald und dem Salzgehalt des Meeres, das hinter der Baumreihe liegt, auf die ich blicke, wenn ich am Fenster bin. Ich habe das Meer auf meiner Zunge und kenne das Meer nicht. Zwischen mir und dem Meer ist der Waldstreifen. Ein tiefer Graben. Ich kann ihn nicht überwinden. Die Küche der Köchin Blume ist noch eine richtige Küche, mit Kacheln an der Wand, einer langen Arbeitsfläche aus Blech. Die Türen sind hell gestrichen, die Türenfenster in Glassegmente geteilt. Das Glas ist von Draht durchwoben und lässt an Bienenwaben denken, ein halbdurchlässiges Türscheibenglas, gegen das Besucher der Küche von außen mit den Schlüsselbunden klopfen. Ich erinnere den riesigen Fleischwolf, von dem gesagt worden ist, dass er, wenn man nicht darauf achtet, den Arm verschlingt, ihn in rosa Wurstschlangen verwandelt. Aus den Kachelwänden, in sie hinein, an den Wänden entlang, verlaufen verschiedene, offen zur Schau gestellte Rohre, wie in einem U-Boot. Die Wasserhähne glänzen golden, sind aus Messing. Die Rohre der Hähne ragen aus der Wand hervor, stehen gewichtig im Raum, rufen: Macht Platz da. Kellen, Töpfe, große Quirls hängen an Fleischerhaken auf hoher Stange. Die Köchin nimmt die Stange mit dem Piratenhaken, angelt den Topf vom Gestänge. Schubladen werden auf und zu bewegt. Hefekuchenteig wird unterm Leinentuch gehalten. Leinenstoff wölbt sich zum Hefebauch. Teig quillt über den Blechrand. Die Köchin ist dick. Ihr Leib steckt im Küchenkittel, unter ihm ist die Unterwäsche der Köchin derb und deutlich auszumachen. Das Haar trägt die Köchin unter einem festen Tuch zum Knoten gebunden. Ihre Finger glänzen wie Spiegeleihaut. Die Köchin arbeitet und nimmt Hilfe nur an, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Wenn Feiertage, große Feste anstehen, die Arbeit um ein Doppeltes, Dreifaches aufwendiger ist, können fremde Kräfte im Küchenreich Zuarbeiten ausführen. Ich will ihr eines Tages behilflich sein. Ich packe den Wischeimer mit schmutzigem Wischwasser gefüllt, der nicht leicht zu packen ist. Wasser schwappt. Der Eimer kippt. Ich rutsche auf der Pfütze aus, schlage lang hin, ramme mir die Henkelaufhängung des Eimerrandes durch die Unterlippe, säble zwei Milchzähne glatt weg, kann von innen her zwei Finger durch das Hautloch stecken, mit der Kuppe nach außen winken.
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