Wenn der Heimleiter die Reihen abschreitet, kann er nichts von den blauen Flecken in den Achseln der Jungen sehen. Wir werden in den Keller geschickt. Wir müssen für alle anderen einsehbar in der Ecke stehen. Wir haben Extrarunden, Extraarbeiten, Extraküchendienste und sonstige Extras zu verrichten. Ob nun mit dem Wischlappen in der Hand die Flure entlang, ob kniend Stufe für Stufe die Treppen hoch und runter oder beim Heimleiter am Klosett mit Seife und Bürste, die uns auferlegten Bestrafungen erledigen wir heiteren Sinnes. Heinz hat das Kneifen eines Tages satt und geht zum Leiter. Der Heimleiter erhebt sich von hinter seinem Schreibtisch, heißt Heinz die Arme anheben, betrachtet ihn kurz, setzt sich, fragt Heinz eindringlich: Was ist, warum bist du hier? Wegen dem Fleck. Du hast dich gestoßen. Ich bin gekniffen worden. Von wem? Vom Erzieher. Irrtum. Du hast dich gestoßen. Ich bin gekniffen worden. Raus. Heinz verlässt das Heimleiterzimmer, ist sauer bis ans Kinn. Der Expolizist ist am nächsten Tag entlassen. Es heißt, er kommt nie wieder. Tegen heckt Fluchten aus. Tegen will aus dem Heim raus. Tegen will fliehen. Das Fliehen müssen ist seinem überdurchschnittlichen Ego geschuldet, denn außer dass Tegen für eine Weile fort ist und mit der Polizei zurückgebracht wird, ist zu seinen Fluchten nicht viel zu berichten. Tegen schwört ab. Wenn es von ihm verlangt wird, sagt er, dass er nie wieder aus dem Heimleben fliehen wird. Und hat die nächste Flucht im Kopf. Tegen wandelt sich scheinbar zum Besseren, gibt vor, ein geläuterter Junge zu sein, erscheint für einige Wochen wie ausgewechselt und von Fluchtgedanken rundum geheilt, ist aber innerlich aktiv wie ein Vulkan. Man muss ein Gespür für natürliche Gefahren entwickeln, sich selber lenken und hat, was anzurichten geht, anzurichten, solange alles in Übereinkunft mit dem inneren Gewissen passiert. Es bedarf keines Lobes von außerhalb, das sich selbst bezeugte Lob ist Ehrung und Ansporn genug. Man ist allein die beste Mannschaft. Jede Flucht ist ein Versuch, sein Ich zu bilden. Am Ende wird aus allen Fluchten persönliche Bestärkung. So in etwa sind Tegens Worte. Wir redeten viel miteinander. Von Tegen wusste ich: Das Heim ist groß wie das Meer. Das Heim ist rund wie eine Kugel. Wir leben in der Kugel wie die Laufmaus auf dem Gitterrad. Wir bewegen das kugelige Heim. Wir bringen das Heim ins Rollen, von innen her erfahren wir das kugelrunde Heim in seiner gleichwertigen Rationalität zu den uns umgebenden Realitäten. Das Nachbarhaus, die Schule, der Sportplatz und alle die Wege dorthin sind wie ein Netz, das sich um unsere Heimkugel spannt. Das Leben draußen kennt Ecken, das Leben drinnen läuft rund, ist sich seiner Rundheit aber nicht bewusst. Wir rollen im Leben voran, wo andere ausschreiten und vorwärtsgehen. Der Gärtner handelt mit Birnen. Die Mutter ist fort. Die Kugel ist rund. Es macht leichter ums Herz, so verrückt von den schweren Dingen zu reden. Von Tegen habe ich leicht denken gelernt. Ihm verdanke ich mein poetisches Talent. Das Heim ist rot. Das Heim ist schwarz. Der Raum ist an die Zeit gebunden. Vom Heimleiter kommt keine Errettung. Das ist die Art, wie ich kurier, sie ist probat, ich bürg dafür, dass jedes Mittel Wirkung tut, schwör ich bei meinem Doktorhut. Der Heimleiter ist ein Subjekt. Er lebt nicht von Eindrücken, er übt Druck aus. Wir existieren als Schatten für ihn. Das schwarze Heim ist rot. Vier gewinnen eher als einer zu dritt. Wir mögen eine Arbeit nicht, also lassen wir uns bestrafen. Wir sind zur Strafe aus der Heimarbeitsgruppe genommen, in den Strafkeller befohlen, wohin wir freudig marschieren, weil im Keller unterhalb der Treppe unsere enge Nische eingerichtet ist, wo wir dann selig waren.
Erneut ist im Südkreis ein ausgesetzter Säugling gefunden worden. Nach Polizeiangaben wurde das in ein Handtuch eingewickelte Mädchen am Freitagabend durch einen Bewohner im Flur eines Mehrfamilienhauses an der Bahnhofstraße in Gangelt-Birgden entdeckt. Laut Untersuchung der Ärzte ist das etwa eine Woche alte Baby in einem guten Gesundheitszustand. Die Suche nach den Eltern verlief zunächst ohne Erfolg, wie die Polizei am Pfingstmontag mitteilte. Der Säugling kam unterdessen in eine Kinderklinik in Mönchengladbach. Das Jugendamt der Stadt Heinsberg übernahm die Betreuung. Obwohl während des Wochenendes Hinweise aus der Bevölkerung eingingen, hat die Polizei bislang keine konkrete Spur zu den Eltern oder Personen, die das Baby in dem Flur ablegten. Man suche weiter nach Zeugen, die möglicherweise Auffälliges bemerkt haben, hieß es. Die Polizei fragt: Wer kann Angaben zu der abgebildeten Babybekleidung und zu dem Handtuch machen? Wem ist in den vergangenen Tagen aufgefallen, dass eine hochschwangere Frau nicht entbunden hat bzw. keine plausible Erklärung zum Verbleib des Kindes hat? Wer hat am Freitagabend zwischen 17.30 Uhr und 18.10 Uhr auf der Bahnhofstraße verdächtige Beobachtungen gemacht? Die gesuchte Person könnte sowohl mit einem Fahrzeug unterwegs gewesen sein, das Kind auf dem Arm getragen oder es in einem Kinderwagen gefahren haben. Anwohner teilten der Polizei mit, dass ihnen zwei Frauen gegen 17.45 Uhr auf der Bahnhofstraße aufgefallen seien. Sie saßen auf der Rundbank, die um einen Baum auf dem Parkgelände an der Ecke Bahnhofstraße und Großer Pley angebracht ist. Ob die beiden Frauen mit dem Säugling in Verbindung stehen, ist zurzeit nicht bekannt, erklärte die Polizei. Aber eventuell hätten sie wichtige Beobachtungen gemacht, die den Beamten bei den Ermittlungen weiterhelfen könnten. Bereits im Januar war in Karken ein Baby ausgesetzt worden. Ein Unbekannter hatte an einer Haustür geklingelt, das Kind zurückgelassen und war geflüchtet. Die Hausbewohner fanden den Säugling in einer Umhängetasche mit niederländischer Aufschrift.
Da die Grenze nicht weit ist, vermuten die Ermittler, dass das Baby aus dem Nachbarland stammt.
ICH HABE KEINEN BRUDER, keine Schwester. Ich schreibe all die wundersam grausigen Geschichten, die Tegen mir erzählt, im Hirn auf. Sie leben mit Herzblut in meinem Körper. Geschichten von Rittern, Jungfrauen. Kämpfe mit scharfem Schwert. Ideale des ritterlichen Lebens. Heimlich unter der Treppe, in der unwürdig leuchtenden Kellernische. Die Verehrung der auserwählten Frau. Die Hingabe an sie und Dienstbarkeit dem jeweiligen Herrn gegenüber. Kampf, Tapferkeit, Rechtschaffenheit, Nächstenliebe, Minnegesang, Lieder und Abenteuer. Es ritt ein Reiter sehr wohlgemut, zwei Federn trug er auf seinem Hut, die eine war grün, die andere blank, mich däucht, mich däucht, Jungfer Dörtchen ist krank, die Glöcklein, die läuten rosenrot, mich däucht, mich däucht, Jungfer Dörtchen ist tot, er hat einen Säbel von Golde so rot, damit stach er sich selber tot, sie legten beide in einen Sarg und ließen sie nach dem Kirchhof tragen, es dauerte kaum dreiviertel Jahr, da wuchs eine Lilie auf ihrem Grab. Ich besitze ein Ritterschwert. Es ist ein aus Latten gefertigtes Kreuz, das ich nicht hergebe, mit dem ich schlafe, das mir Ritterträume, Helden schenkt. Ich bin durch Tegen in die märchenhaft mythische Welt geworfen. Ich heiße Parzival, Tristan, Isolde ist das Mädchen, von dem er träumt. Den Namen Walther von der Vogelweide sagt Tegen mit Glanz in den Augen, lehrt mich Gefühl, Leidenschaft für die Natur, so arm und mittellos einer ist, den Launen der Herren ausgeliefert. Von Heim zu Heim ziehen wir. Mit Liedern überleben wir, voll der Überzeugung, dass es sie gibt, die bessere Welt unter ehrlichen Rittern, die Welt, die uns gewogen ist. Gleichheit den Gleichen, sagen wir anstelle von Gute Nacht. Wider den Schein und Betrug, töne ich hinterm Haus beim Fechtspielen. Ich stürze mich ins Getümmel. Ich bin ein Ritter. Ich diene keinem Kaiser. Ich bin auf der Reise durchs Land, um mein Schwert in Einsatz zu bringen. Seine Ritterdichtungen trägt Tegen im leisen, bedrohlich kräftigem Ton vor. Als stünde er auf dem Schafott, als ginge es um Leben oder Galgentod. Benimmt sich untertänig, krümmt sich mir zu Füßen, als wäre ich sein König, schaut von unten zu mir herauf, dass mir seltsam ist, ich ihm zum Gefallen königliche Gesten vollführe. Hell und eindringlich, klar singt Tegen. Seine Pupillen werden dunkelbraun, sein kuschelweicher Lockenkopf kräuselt sich, der eh dunkle Teint, durch den er sich von uns blassen Kindern im Heim abhebt, verfinstert sich, spricht er von König Artus, die Ritter der Tafelrunde. Gawain, Lanzelot. Ich ziehe mit dem Schwert. Ich bin auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Ich beginne im Kellerloch mein Rittertum. Ich verschlinge Cervantes' Don Quijote. Ich lache und leide mit dem irren Ritter. Ich begeistere mich für Ritterrecken und den Zauberring. Ich bewohne feste Burgen. Ich habe teil an sagenhaften Festen, regelrechten Rittergelagen. Es gibt Fisch, Eier, Nudeln, Reis und Backkartoffeln zu Schweinebauch, Rinderbraten. Wild. Hase. Hirsch. Berge von Steaks und rohem Schinken, Sauerfleisch und Kümmelknacker, alles aus heißen Töpfen. Es riecht nach Safran, Pfeffer, Zimt, Vanille, Ingwer, Nelken, Lorbeer, Muskatnuss und Rosmarin, Liebstöckel, Basilikum und frisch gehackter Petersilie. Wir haben Obst und Gemüse in Hülle und Fülle. Es ist das Schlaraffenland. Unsere Mägen knurren. Wenn Tegen redet, genügt ein Fingerschnippen, wir greifen Äpfel, Bananen, Melonenstücke. Die Schwerter stecken in süßer Grütze. Karamell und geraspelte Zartbitterschokolade zergehen auf meiner Zunge. Ich weiß vom Krokant, bevor ich ihn koste. Ich weiß von kandierten Veilchenblättern. Ich kann eine Speise, die ich zuvor noch nie gegessen, mit verbundenen Augen durch die Beschreibung Tegens identifizieren.
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