In der Schulkinderheimzeit kommen wir immerhin auch im Ort herum, erfahren anderes Leben, gelangen an Grenzen, von denen aus es immer weitergeht, wie behauptet wird. Ich erinnere mich an den lieblich stempelnden Dauertakt des Postamtmannes der kleinen Ostseegemeinde, an der Ecke neben dem Souvenirladen, wo Glaskugeln zu bestaunen sind, die man nur schüttelt, sodass der im Inneren der Kugel ausgebreitete weiße Schneeteppich birst, Flocken wirbeln, Schnee im Schneegestöber stobt. Wir sind nahe den Sportwiesen, hinterm Zeltplatz am Tümpel, wo Herbert Kiwitt einen Regenwurm schluckt und der blonde Junge, den alle Riese rufen, Frösche platzen lässt, Tegen nur so viel ins Wasser pinkelt, dass er noch in die Ecke neben der Treppe zum Heimeingang pinkeln kann, was alle sehen, aber niemand verrät. Der Heimleiter findet trotzdem heraus, wer der freche Pinkler war. Und auch sonst ist viel mehr los im Schulkinderheim. Wir kommen aus dem Heim heraus, mit anderen Kindern zusammen. Der Biologielehrer haut sich eine Ohrfeige runter, um der Klasse vorzuführen, wie sich die Großaffen im Busch benehmen, wenn es um den Schutz der Familie geht. Die Schulkinder sind nicht immer freundlich zu uns. Es gibt ihrer drei, vier, die sagen Gemeinheiten zu uns, mit denen wir umgehen können, aber auch Sätze über unsere Eltern, von denen wir keinerlei Ahnung haben, weil wir die Eltern nicht kennen, nicht nachprüfen können und aus purer Selbsthilfe oftmals Glauben schenken. Selbst wenn sie unsere Väter Hurenböcke schimpfen, unsere Mütter Nutten nennen, bleiben wir stumm und erdulden es. Heinz wehrt sich. Er geht auf so einen Bauernlümmel zu, packt ihn am Hals, hält seinen Hals lange fest, versetzte ihm einen Schlag in die Magenkuhle, dass dem die Luft zum Atmen fehlt, er wegsackt, sich krümmt, keinen Mucks mehr von sich gibt und auch später von ihm nichts mehr zu hören sein wird. Man hört die Engel zwitschern, sagt Heinz, hebt sein Hemd hoch, lässt seinen dicken rosa Bauch sehen, hält ihn mir hin, sagt, dass ich keine Memme sein und zuschlagen soll. Ich zögere erst, dann schlage ich zu mit ganzer Wucht. Heinz zuckt nicht einmal mit der Braue, sondern lacht mich aus, dass es das gewesen sein soll, weshalb ich ein zweites Mal, wild und ungebremst, Heinz in den Bauch boxe, der nicht wankt, nur müde lächelt, den Bauch wieder bedeckt, abwinkt und rund um die Uhr unser Beschützer ist, zur Nacht auf seiner Pritsche als Letzter einschläft und schon wach ist, wenn wir erwachen.
Ich bin sein bester Freund, sagt er. Einen besseren Freund als Heinz kann man nicht haben. Heinz ist zudem noch ein Wundertäter, Wahrsager. Sie schleppen den leblosen Siegfried ins Zimmer, wuchten ihn auf die Matratze, wo er steif liegen bleibt. Wir Kinder huschen über die Flure, öffnen alle Türen, rufen die Nachrichten aus, die sich als Lauffeuer im Heim ausbreiten. Der Siegfried ist in einen wachen Tiefschlaf gefallen. Kann sein, dass er lebendig stirbt. Heinz nimmt seine große, bunte Glaskugel zur Hand, hält sie dicht an sein Auge, dreht sie einige Male vor seiner Pupille und bestimmt: Der überlebt. Kurz darauf erwacht der Siegfried aus seinem Koma, von dem er selbst nichts mitbekommen hat.
DEM ERZIEHER GEFÄLLT ES, die Jungs im Heim unter den Achseln zu kneifen. Er entwickelt dafür eine spezielle Handfertigkeit, ein kurzes, heftig schmerzendes Drehen und gleichzeitiges Drücken mit den harten Fingerknochen, das den Jungen automatisch auf die Zehenspitze gehen lässt und Luft durch die zusammengepressten Lippen nach innen saugen, worauf er die Augen verdreht, die Arme von sich schiebt, einem Pinguin ähnlich, bis in die Fingerspitze hinein zittert und ausschaut, als würde er sich verbrennen. Unter den wagemutigen Jungen des Heimes bricht ein Wettstreit aus, wer von ihnen den Fingerballendreh am besten aushält, den zugefügten kurzen Schmerz ohne Wimperzucken durchsteht. Sie legen es also darauf an, sich packen und kneifen zu lassen.
Keiner kann für sich einen absoluten Vorsprung erringen, alle unterliegen sie dem Druck, den höllischen Schmerzen. Es kann bei dem ungleichen Ringen keinen anderen Sieger als den kneifenden Erzieher geben.
Hier ist es wie in einem Hotel, sagt der Herr Heimleiter zum Neuen aus dem Jugendwerkhof, von wo sie den Jungen zu uns geschickt haben, dass er umerzogen wird, Manieren annimmt. Der Erzieher presst ihn gegen die Wand neben dem Pissbecken. Hier ist es fast wie zu Hause, schreit er den Neuen an, drückt dessen Kopf an die Kacheln, presst ihm die Kehle, um ihm ins Angesicht zu sagen, dass er den Herrn Heimleiter achten und lieben lernen wird, er es ihm auf Verlangen jede Stunde beibringen will, jeden Tag aufs Neue den Herrn Heimleiter zu lieben, die Erzieher zu lieben, das Kinderheim zu lieben, alle Kinder im Heim zu lieben, sich zu lieben. Er werde ihn Kacheln küssen lassen, bis er die Kacheln zu lieben beginnt. Es gehört sich nicht, einen Zögling gegen die Wand zu drücken, schreit der Herr Heimleiter den Erzieher an, der den Neuen ohne seinen ausdrücklichen Befehl dazu gezwungen hat, die Kacheln im Bad zu wienern. Die Sache wird im Heimleiterbüro zur Sprache gebracht. Ein Neuankömmling ist ein Neuankömmling, ihm wird Zeit gegeben, sich zu gewöhnen, ist aus dem Heimleiterzimmer zu hören. Der Neue ist kein Waschlappen. Der Neue ist nicht hierhergekommen, einem Erzieher Spaß zu bereiten. Sich einem Wesen überlegen zu fühlen, einen Zögling am Hals zu packen, ihm die Richtung zu weisen, gehört sich nicht für einen Erzieher. Das alles ist Angelegenheit des Heimleiters. Der Erzieher sieht sich gewarnt, verwarnt. Der Neuankömmling bringt uns von da, wo er herkommt, neue Worte mit. Er sagt das Wort Einlieferung. Er spricht davon, dass man ihn von der Straße weggefangen und eingeliefert hat. Er wird nicht zu uns gebracht, er wird uns geliefert, wird uns verbracht. Er kommt von einem Polizeizimmer in die Erziehungsanstalt. Er nennt sein Heim Werkhof;
ein neues Wort, ein Schreckenswort. Wir wollen niemals in den Werkhof kommen. Das Werk ist eine Zuchtfabrik, ist nur der Hof zum Werk, auf dem sie alle antreten müssen, jeden Tag etliche Male, wenn einer von ihnen was ausgefressen hat, wenn keiner was ausgefressen hat. Der Neue sagt, dass er fett in der Tinte hockt und kein Füllfederhalter ist. Er sagt, wo er herkommt, legt keiner eine Beschwerde ein. Erdulden ist Dort ein Normalzustand. Von einem Griff an die Gurgel geht keinerlei Bedrohung aus, sagt er und sagt, es gäbe Mittel genug, dich nicht anzurühren und hart zu bestrafen. Er sagt, sie haben Dort stille Mittel, die leise und langsam, aber spürbar zugreifen. Er sagt uns nicht, was es ist, was nach den Bewohnern greift. Wenn wir mal Dort landen sollten, warnt er, dürften wir auf keinen Fall aufbegehren. Wer Gutes anrichtet, wird nicht mit Lob, sondern mit Kopfnüssen bedacht. Die Formen von Danksagungen kommen wie jede Gewalt unerwartet aus heiterem Himmel herab.
Hast du Glück, wirst du mit leichten Blessuren beschenkt. Hast du Pech, trägst du Beulen davon und Schmerzen, die im Inneren brennen. Der Neue macht uns Angst. Ich merke mir das Wort Blessuren. Die Woche darauf ist der Neuankömmling wieder fort, dorthin zurück verbracht, von woher er hergebracht worden ist; weil er der Roswitha an die Wäsche gegangen sein soll, wegen der Sehnsucht, diesem unerreichbaren anderen Teil vom Leben. Der Sehnsucht nach Nähe, die am besten hinter hohen Mauern gedeiht, aus deren Stamm merkwürdige andere Sehnsüchte treiben, die einen hinreißen, Dinge zu tun, die nicht erlaubt sind, ohne dass wir unsere Handlungen verstehen müssen. Der Neue hat in Roswitha seine Schwester, Mutter, Oma, Cousine oder Tante gesehen, heißt es. Sehnsucht hat ihn verwirrt. Roswitha habe für ihn mit der Stimme seiner Mutter geredet, er habe Roswitha als Mutter reden gehört. Sanfte Worte der Sehnsucht waren es. Aus dem fremden Mund gesprochene Worte der Sehnsucht waren es. Fremde Worte, die sich einem in die Träume einschleichen, sich dort festsetzen, dich blind werden lassen, taub und blindwütig handeln lassen.
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