«Sehr richtig. Sie haben das sehr gut verstanden, Herr Professor. Deswegen werde ich in letzter Zeit von meinen früheren Freunden wie ein Abtrünniger behandelt. Aber wir haben keine Wahl. Die Shoah zwingt uns zu diesen Methoden. Der Zug der Zeit ist nicht aufzuhalten. Bedenken Sie doch, es geht um den Meschiach.«
Er sah sich um und flüsterte:»Ich finde immer mehr Unterstützung. Menschen auf der ganzen Welt. Juden in New York. Protestanten aus Texas, die glauben, das messianische Kind sei die Rückkehr von Jesus Christus. Sogar eine katholische Sekte. «Rabbiner Berkowitsch verzog den Mund.»In den Kirchen liegen lauter Körperteile. Reliquien. Bereits im Mittelalter florierte der Organhandel. Blutphiolen von Konstantinopel nach Brügge. Nieren von Perugia nach London und von dort nach Paris. Herzen und Hirne, Lebern und Lungen, Haarlocken, Hautschnipsel, Finger und Knochensplitter wurden durch Europa transportiert. Die Dome sind heute noch Leichenschauhäuser. Von manchen Heiligen scheint es so viele Zähne zu geben, daß sie über das Gebiß eines Krokodils verfügt haben müßten. Von einigen Märtyrern existieren genug Wirbel, um daraus den Hals einer Giraffe formen zu können. Meine katholischen Sympathisanten sind ausgerechnet auf die Reste der Vorhaut des beschnittenen Jesuskindleins spezialisiert. Sie sind ganz versessen darauf. Das Präputium dieses jiddischen Säuglings ist ihre Sammlerleidenschaft. Ihre Passion! Von dieser Vorhaut gab es einst viele Schnipsel. In einem italienischen Dorf, Calcata, wurden bis vor kurzem noch Prozessionen damit abgehalten. Dem Vatikan gefiel das gar nicht, und plötzlich war das Stück weg. Gestohlen. Stellen Sie sich vor, wir würden mit dem Abfall der Brith Millah Festzüge veranstalten! Das würde uns gerade noch fehlen. Heute gibt es nur noch wenige Exemplare der Vorhaut. Früher hätten sie aus den vielen Spitzkeles einen Fallschirm nähen können. Wie auch immer. Diese katholische Sekte nennt sich Zelle des Heilands, denn sie hofft, aus reaktivierten Zellen der Vorhaut Jesus klonen zu können. Sie sind aber auch an meinem Projekt interessiert. Sie hoffen, mein Meschiach ist die Wiederkehr von ihrem Jesus. «Rabbi Berkowitsch lehnte sich zurück.
Er brauche sich nicht sofort zu entscheiden. Er solle überlegen, was er für seine Samenspende wolle.»Wir sind bereit zu zahlen. Viel. Sehr viel! Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, Ihren Beitrag zu honorieren. Denken Sie nach. Wir erfüllen Ihnen gerne Ihre Wünsche. «Rabbi Berkowitsch zog eine Visitenkarte aus der Jackentasche. Ethan möge sich melden, sobald er einen Entschluß gefaßt habe.
Noa lachte, als Ethan ihr von Rabbi Berkowitsch erzählte. Am besten gefiel ihr, daß Ethan das Angebot ablehnen wollte. Immerhin, lachte sie, hänge von ihm nicht weniger als das Erscheinen des Messias ab.
Am nächsten Tag besichtigten sie gemeinsam eine Wohnung, von der ihm ein Kollege an der Universität erzählt hatte. Altes Bauhaus. Der Besitzer, ein alter Mann in blütenweißem Hemd und anthrazitschwarzer Hose, schloß ihnen auf. Das Appartement hatte einen großen Balkon, der Mietpreis war fair. Sie entschieden sich schnell. Einziehen wollten sie allerdings erst kurz vor Nuriths Rückkehr aus Amerika. Noch mußten sie Tschuptschik, den rotgetigerten Kater, und die Wellensittiche versorgen.
Am Wochenende besuchten sie seine Eltern. Ethan umarmte Dina und Felix. Er nickte Rudi zu. Noch nie habe er sich in Israel so zu Hause gefühlt, erzählte der Österreicher. Er sei am Tag zuvor in Jerusalem gewesen. Er spüre inzwischen, wie sehr es seine Stadt sei. Er wolle Israeli werden. Noa meinte, es knirschen zu hören. Eine Verspannung im Raum. Während Felix und Dina ein freudiges Gesicht machten, sah sie, wie es Ethan forttrieb.
Er habe einen neuen Artikel über Dov geschrieben, der in der Wochenendbeilage jener österreichischen Zeitung erscheinen werde, in der auch sein Nachruf veröffentlicht worden war. Diesmal sei es ein Porträt geworden. Felix klatschte in die Hände. Dina nickte zufrieden. Noa und Ethan fragten, ob sie es lesen dürften. Rudi reichte ihnen das Papier. Es war als Lobeshymne gedacht. Hatte Rudi damals durchblicken lassen, Dov letztlich für seinen Zionismus zu verurteilen, verteidigte er nun den Anspruch auf das verheißene Land. Er feierte Dov dafür, daß er kein Opfer mehr sein wollte, sondern ein freier Mensch. Im Grunde war Dov wieder als radikaler Nationalist dargestellt, nur wurde es diesmal anders bewertet.
Noch habe er den Artikel nicht nach Wien geschickt. Ob die anderen ihn nicht auch lesen wollten. Er würde gerne wissen, was sie davon hielten, wolle ihre Kritik hören. Felix winkte ab:»Ich bin kein Zensor. Du hast das sicher wunderbar gemacht. Ich vertraue dir voll und ganz.«
Noa und Ethan wechselten Blicke. Rudi sagte:»Ich danke dir, Felix. «Er überging das Schweigen der anderen.»Reden wir nicht mehr darüber. Ich bitte euch. Meine frühere Fassung tut mir leid. «Er lächelte in die Runde:»Ich habe einen Plan. «Er habe über alles nachgedacht. Er bitte Felix, ihn, den Sohn, als Organspender zu akzeptieren. Es wäre wichtig für ihn.
Dina schaute erschrocken zu Felix, dessen Lächeln zerronnen war. Er sprach ausdrücklich freundlich und langsam.»Ich danke dir, aber das kommt überhaupt nicht in Frage!«
«Warum denn nicht?«fragte Rudi.
«Allein die Idee ist pervers. Soll der Sohn sich etwa für den Vater opfern?«Er griff sich ans Kreuz, als meldeten sich die Schmerzen wieder.
«Warum denn nicht? Was heißt hier überhaupt Opfer? Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Laß mich das tun. Wieso lehnst du mich ab?«
«Du hast das Leben vor dir, Rudi. Du brauchst deine Nieren noch. Ich kann dich doch nicht ausweiden.«
Dina war flatterig geworden. Felix sagte, er verbiete, als Vater, jede weitere Diskussion darüber. Das sei ihm fremd. Es war dieses Wort, das Rudi aufbrachte. Fremd.
«Bin ich dir also fremd?«
«Nicht du!«
«Soso!«
Ethan meinte:»Hör zu. Ich habe eine bessere Idee. «Rudi schrie:»Du bist natürlich auch dagegen.«
«Wieso natürlich?«
«Weil du es bisher nicht vorgeschlagen hast. Deshalb willst du auch nicht, daß ich es mache.«
Ethan schüttelte den Kopf.»Du bist ja nicht normal. «Er atmete durch.»Ich glaube, es gibt einen einfacheren Weg. Ich traf vor kurzem den berühmten Rabbi Jeschajahu Berkowitsch. Ihr habt von ihm sicher schon gelesen. Kurz und gut: Er ist mir einen Gefallen schuldig. Wenn Rabbi Berkowitsch will, findet er einen Menschen im Alter von Felix oder älter, der ein passendes Organ für Abba spenden könnte. Glaubt mir.«
«Und warum soll er ausgerechnet uns helfen?«fragte Rudi.
«Weil er von mir überzeugt ist. «Er würde ihm bei Gelegenheit alles genauer erzählen.
Später saßen sie zu zweit im ehemaligen Kinderzimmer, und Ethan berichtete von Rabbi Berkowitsch und seinem Plan, den Messias zu erschaffen. Rudi sagte:»Das klingt doch vollkommen verrückt.«
«Zweifellos, aber wenn wir so zu einer Niere kommen!«
«Und wenn nicht?«
«Dann können wir immer noch sehen, ob nicht einer von uns einspringt und sich für eine Transplantation zur Verfügung stellt. Aber vielleicht weiß Berkowitsch einen Ausweg. Klar, es klingt verrückt. Aber was ist noch normal? Der Wahnsinn ist bei uns doch längst schon die Regel.«
Und auf dieses Argument wußte auch Rudi nichts zu erwidern.
7
Blödsinn, sagte die Medizinerin. Sie sei keineswegs von der Idee des Rabbiners Berkowitsch überzeugt. Sie sei überhaupt nicht religiös. Sie mache ihre Arbeit, egal ob der Messias durch ihre Hilfe auf die Welt komme oder, was sie eher erwarte, ein anderer Schreihals. Im übrigen sei es nach heutigem Stand der Forschung gar nicht möglich, den Klon eines ermordeten Embryos zu generieren. Eine solche Nachgeburt der Shoah entstehen zu lassen sei ja an sich eine unappetitliche Vorstellung.»Aber bitte! Ich erfülle meine Pflicht.«
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