«Der Meschiach«, wisperte er und sah sich um,»es ist bezeugt, er war bereits gezeugt. Noch wußte niemand von ihm. Noch hatte niemand ihn gesehen. Aber unter der Brust einer Frau wuchs ein Embryo heran. Ich kann die Zeichen entschlüsseln, kann jeden Buchstaben zur Zahl entziffern, kann die Methoden unserer Gerechten anwenden und damit sogar den Geburtstermin festlegen, an dem das Kind das Licht der Welt hätte erblicken sollen. Jener Nachkomme Davids und Salomons aus dem Hause Juda, der uns endlich den Sinn allen Seins eröffnet hätte. Aber es kam nicht dazu. Da ist kein Sinn mehr, sondern bloß noch Unsinn, nein, Widersinn geblieben. Dieses Wesen wurde nicht. Seine Mutter konnte ihm kein Leben schenken, weil sie ihres schon verloren hatte, weil es ihr geraubt, weil sie erschossen worden war. Der Vater sollte sein Kind nie in die Arme nehmen, weil ihn die Mörder vergast hatten. Im Winter des Jahres 1942 war das Schtetl zusammengetrieben worden, und alle wurden innerhalb weniger Tage ermordet. Was soll ich sagen? Wozu erzählen, was sich an Abertausenden Plätzen genauso zugetragen hat. Sie sperrten Frauen, Kinder und Männer in eine Scheune und zündeten sie an. Die anderen durften draußen zuschauen, wie die Verwandten um ihr Leben schrien, wie der Rauch aus dem Inneren stieg, wie das Feuer hochschlug, wie sie den Flammen zu entkommen versuchten, wie sich einige wenige aus den Fenstern stürzten und von der SS totgeschlagen wurden. Wie die meisten in den Wald getrieben wurden, um jene Gruben auszuheben, in die sie bald danach hineingeschossen wurden. Was soll ich Ihnen erzählen, Herr Professor?… Keines meiner Worte reicht aus. Meine Sprache versagt. Und Sie werden es ohnehin nie verstehen. Was soll ich Ihnen erklären? Wieso der Rest ins Lager verschleppt wurde?«
Ethan nickte, dann fragte er leise:»Sie waren dort, nicht wahr, Rabbi Berkowitsch?«
Der Rabbiner erbleichte, und dann flüsterte er:»Ich kann Ihnen sagen, Herr Professor, es hat sich getan.«
Ethan wußte nicht, wohin schauen, da fuhr der Alte fort:»Ich war andernorts. Im Wald. «Er räusperte sich.»Wir sind alle Überlebende, Herr Professor. Keiner hätte übrigbleiben sollen. Kann vorherbestimmt sein, was geschah? Fragen Sie sich manchmal, Herr Professor, wie Religiöse sich erklären, was uns widerfuhr?«
Ethan nickte.»Ich kenne die Theorien. Manche meinen, der Holocaust unterscheide sich nicht von anderen Katastrophen, die das Judentum trafen.«
«Blödsinn! Die geplante Ausrottung eines Volkes, die industrielle Produktion von Leichen war noch nie da. Nie!«
«Dann, Rabbi, gibt es noch die These, Gott hätte die Juden für ihre Sünden bestraft.«
«Und die Million ermordeter Kinder? Sogar der Satan selbst könnte keine Sünde erfinden, die von diesen Kleinen gesühnt werden müßte. Nebbich. Es gibt keine Erklärung. Am dümmsten ist die Theorie, der Massenmord sei notwendig gewesen, um Israel zu gründen. Wieso sollte Gott den Juden, von denen er zuerst die meisten umbringen läßt, ein Land schenken? Das wäre so, als würde einer sagen, es gibt Brände, damit die Feuerwehr mit roten Autos, Blaulicht und Sirenen durch die Stadt rasen kann. Das ist doch meschugge. Nein. Die Feuerwehr gibt es wegen der Flammen. Der Staat wurde gegen den Antisemitismus gegründet. Alle unsere Erklärungen taugen nicht, da sie nicht beantworten können, warum solch ein Verbrechen sein mußte. Was aber, wenn die Antwort für uns nur nicht zu erkennen ist, weil sie in der Zukunft liegt. Vor uns. Vor unseren Augen. Vor unserer Nase!«
Ethan war verstummt. Berkowitsch fuhr fort:»Sie müssen es doch verstehen. Sie sind doch nicht so blöd. Eben deshalb, weil unsere Erklärungen nichts erhellen, bleibt alleinig der Verweis auf Gott. Verstehen Sie?«
Ethan begann die Ungeheuerlichkeit zu begreifen, die Berkowitsch andeutete.»Sie wollen doch nicht sagen, die Vernichtung sei Gottes Schöpfung? Der Massenmord ist ohne Sinn, ist das Widersinnige schlechthin!«
Der Rabbi winkte ab:»Die Shoah das Ergebnis blinder Zufälle? Die Untat ist so böse, so monströs. Sie schreit nach einem zentralen Plan. Gottes Existenz war nie so offenkundig wie in jenem Augenblick, da er sich nicht zeigte, da er fehlte.«
Ethan fröstelte bei diesem Gedanken:»Auschwitz als Gottesbeweis?«
Der Rabbiner fuchtelte mit dem Zeigefinger.»Auschwitz als Teufelswerk, und wenn der Satan existiert, wird der Glaube an Gott zur Gewißheit. In der Shoah sehen wir das Übermenschliche, denn es gibt dafür keine Erklärung, die in unseren Kopf paßt. Wir müssen erkennen, daß manches jenseits unseres Geistes liegt. «Und dann schrie er:»Ist es meine Aufgabe, Gott zu rechtfertigen? Er selbst muß sich verantworten. Nur er kann offenbaren, wieso er es zuließ. Und die einzige Antwort, die wir akzeptieren können, ist die sofortige und vollständige Erlösung. Verstehen Sie, Ethan? Nichts weniger! Das Ende aller Leiden. Die Verbannung des Bösen von dieser Erde. Die Herrschaft Gottes durch das Erscheinen des Meschiach. Gesegnet und willkommen König Meschiach. Baruch hu, baruch haba melech hamaschiach!«Die letzten Worte hatte er gerufen, als wäre er der Ansager in einem Boxring in Las Vegas. Eine arabische Familie auf Krankenbesuch, die gerade am Cafe vorüberging, zuckte zusammen, als hätte sich das Gebrüll gegen sie persönlich gerichtet. Eine Krankenschwester rief ihn streng zur Ruhe, er sei hier in einer Klink, in der Patienten geschont werden müßten. Aber Rabbiner Berkowitsch achtete nicht auf die Zurechtweisung, nicht auf die Nebentische, nicht auf die Patientin, die im Rollstuhl vorbeigeschoben wurde. Er sprach weiter und fixierte dabei Ethan, zwang ihn ebenfalls, die anderen nicht zu sehen.»Nichts weniger ist zu akzeptieren. Nichts anderes steht in den Büchern.«
«Aber Rabbi, Sie haben doch gesagt, der Messias sei im Mutterleib ermordet worden.«
«So ist es.«
War es möglich, daß der Rabbiner seine eigenen Worte und ihre Bedeutung nicht erfaßte? Schwungvoll schlug Rabbi Berkowitsch einen Ordner auf. Der Deckel drückte die Cremetorte flach, und die weiche Füllung quoll hervor.»Ich sehe, was Sie denken, Herr Professor. Ich weiß durchaus um den Widerspruch in meinen Aussagen. Dieses Paradoxon ist es, auf das wir in den Schriften stoßen. Einerseits die Prophezeiungen, der Messias werde kommen, die Welt zu befreien, und im Gegensatz dazu die Vorhersagungen der Katastrophe. Die versteckten Zeichen, wann und wo er gezeugt werden soll, aber ebenso die verborgenen Hinweise in eine ganz andere Richtung. Wie sollte ein Embryo, der ermordet wurde, zum Herrscher der Welt werden können? Wie kann der Lauf der Geschichte umgekehrt werden?«
Der Rabbiner machte eine Pause, in der er die Tortencreme vom Karton des Ordners kratzte und zu essen begann. Ethan sah ihm verdrossen dabei zu.»Nu, Rabbi, was ist die Antwort?«
Die Augen des Frommen blitzten. Das Interesse des säkularen Professors war endlich geweckt.»Es liegt an uns, Ethan Rosen. Dies ist der Moment der Entscheidung, die Stunde der Wahrheit. Unsere Generation ist auserwählt, die Herausforderung anzunehmen.«
«Indem wir Tefillin legen?«
«Im Namen des Allmächtigen, ich rede nicht von den Gebetsriemen. Sind Sie beschränkt? Ich spreche von der Schrift, von den Zeichen. Hören Sie nicht? Ich spreche von den geheimen Chiffren, die Gott seit Anbeginn in unserem Innersten verborgen hat. Sie sind der Ursprung und das Ende unseres Seins. Ich rede von einem Embryo und dem Text, der diesem Wesen eingeschrieben war, noch ehe es zur Welt kam. Von Gottes Signatur, die es in sich trug. Was ist denn die Befruchtung, wenn nicht eine Schöpfung? Was findet sich im Kern allen Lebens, wenn nicht die Insignien des Göttlichen, jene Spirale mit genetischer Information, die in der Biologie mit dem Namen Desoxyribonukleinsäure bezeichnet wird, diese Steigleiter unseres Selbst. Diese rotierende Doppelhelix ist, das sagte ich auch meinen rabbinischen Kollegen, die Grundeinheit jeder Thorarolle. Sie ist uns von Gott gegeben. Verstehen Sie, Herr Professor? Wir müssen nur bereit sein, sie im Lichte unseres Wissens zu lesen.«
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