Ethan schüttelte den Kopf.»Ich glaube, ich verstehe Sie nicht. Besser gesagt, Sie können doch nicht meinen…«
«Das Kollegium aus Rabbinern verstand mich sofort, Herr Professor. Warum sind Sie so begriffsstutzig? Passen Sie auf. Es steht alles geschrieben. Wir wissen über den Messias genug, wenn wir die Zeichen und Codes entziffern. Warum sollten wir nicht tun, was wir seit Jahrtausenden machen und was die Essenz unserer Religion ist? Wir lesen und lernen auswendig. Wir schreiben ab und bleiben den Buchstaben treu. Weshalb nicht kopieren, was uns gegeben wurde? Wieso nicht mit Hilfe unseres Wissens gegen die Auslöschung und die Vernichtung ankämpfen? Der Text ist da. Die Paraphe Gottes liegt vor uns. Wir wissen viel über jenen Embryo, der getötet wurde. Wir müssen nur die allernächsten Verwandten finden, die überlebt haben. Wir können dann mittels gentechnischer Verfahren und mit Unterstützung unserer talmudischen und kabbalistischen Lehren, vor allem aber mit der Hilfe des Allmächtigen, ja, beesrat hashem, das Experiment wagen.«
«Rabbi, sind Sie total meschugge? Sie wollen den Messias klonen? Wie Dolly, das Schaf?«
Der Rabbiner frohlockte:»Sehen Sie, jetzt haben Sie es endlich verstanden. Obwohl: Es ist kein Klonen, da wir ja gar kein Original haben. Noch nicht! Aber aus den Keimzellen der allernächsten Verwandten wollen wir jenes Kind wieder erstehen lassen, das bereits einmal gezeugt und das ermordet wurde, ehe es zur Welt kam. Wir werden dazu vielleicht Tausende von Embryos brauchen — und Gottes Hilfe.«
Rabbi Berkowitsch war mit seinem Vorhaben auf die Ablehnung der Gelehrten gestoßen. Sein Ansehen hatte gelitten. Dieser Mann war unter den Ultraorthodoxen des Landes berühmt. Wenn von ihm die Rede war, horchten fromme Chassiden auf. Nicht wenige waren von seinen Ideen fasziniert. Viele achteten sein Wissen und bewunderten seine Entschlossenheit. Er wußte aufzutreten. Er leitete eine eigene Denkschule. Sein Zentrum lag in einem kleinen Städtchen unweit von Tel Aviv. Hier empfing er Menschen aus seiner Gemeinde. Nachts hielt er Audienz, tagsüber arbeitete er mit seinen engsten Schülern und Vertrauten. In den frühen Morgenstunden warteten im Bethaus jene, die seinen Rat suchten, seinen Schiedsspruch erbaten oder seinen Segen erhofften. Sie standen in einem kahlen Eingangsraum, Neonlicht bleichte das Zimmer, aus dem eine steile Treppe in ein winziges Büro führte, in dem Rabbi Berkowitsch auf einem Sofa hinter einem Tisch saß. Ihm gegenüber an der Wand lehnte ein junger Chassid, der dem Rabbiner zur Hand ging, wenn er etwas brauchte, und die Besucher heraufrief.
Selbst jene, die seinen Gedanken ablehnend gegenüberstanden, konnten sich seiner Faszination nicht völlig entziehen, denn seine Abhandlungen waren von einer bestechenden Logik, wenn sie auch zumeist zu überraschenden und sogar skandalösen Folgerungen führten. Besondere Empörung hatte seine These vom embryonalen Tod des Messias hervorgerufen, aber Berkowitsch verteidigte die Theorie mit allen argumentativen Mitteln. Er trat seinen Gegnern selbstbewußt entgegen. Weshalb seine Idee denn soviel abwegiger sei als jene Theodor Herzls, der vor mehr als hundert Jahren in Basel die Gründung des jüdischen Staates prophezeite? War nicht verkündet worden, nur Gott allein werde die Juden heimführen? Und hielt man nicht jene religiösen Fraktionen für verrückt, die zu glauben begonnen hatten, ausgerechnet die säkularen Linken könnten das himmlische Werk vollenden? Hatten viele religiöse Gelehrte nicht gehofft, pünktlich mit Ben Gurion die messianische Zeit einzuläuten? Und war es etwa verständlich, Siedlungen zu gründen mitten in arabischen Städten? Oder Kindergärten zu errichten, die nur unter dem Schutz einer jüdischen Besatzungsarmee existieren konnten? Wieso sei dieses politische Vorgehen geheiligter als der Versuch, mit laizistischen Wissenschaftlern die Niederkunft des Messias anzustreben? Hieß es nicht mit gutem Grund, in diesem Land sei nur ein Realist, wer an Wunder glaube, mit ihnen rechne und auf sie baue? Er verstehe die Zurückhaltung nicht. Es gebe doch Chassiden, die sich nur rennend durch die Welt bewegten, weil sie in der Shoah ein Zeichen der Endzeit sehen und das Nahen des Messias erwarten. War es da nicht vernünftig, zumindest die Chance zu ergreifen, mit modernen Mitteln für die alten Verkündungen zu arbeiten? Was sollte daran falsch sein, es zu wagen? Wenn das Experiment mißlang, würde eben kein Messias, sondern das eine oder andere jüdische Kind geboren werden. Künstliche Befruchtung war nichts Außergewöhnliches mehr. Was aber, wenn durch diese Intervention die Welt gerettet und neu erschaffen würde? Mußte diese Möglichkeit nicht genutzt werden?
«Seit vielen Monaten suche ich nach den Überlebenden jener Familie, aus deren Mitte der Meschiach hätte entspringen sollen. Ich stieß auf die Linie, aus der die Mutter des ungeborenen Kindes stammte, verfolgte deren Stammbaum, und — ahnen Sie es nicht schon, Professor Rosen? — Sie sind ein entfernter Verwandter jenes Embryos, der in Polen ermordet wurde. Sie sind einer der Angehörigen und jung genug, um ein Samenspender im großen Experiment zu sein. Sie mögen keine Tefillin legen, nicht koscher essen, den Schabbath nicht halten und die hohen Feiertage nicht begehen, aber Sie können uns Ihr Sperma geben und sich unserem Projekt verschreiben. Es geht um das Vermächtnis, um das Erbe, um eine Hypothek aus der Vergangenheit.«
Der Rabbiner fuhr sich mit der Hand durch seinen Bart. Ethan starrte den Frommen an. Warum hatte er sich nur auf dieses Treffen eingelassen? Er hatte es mit einem Meschuggenen zu tun, einer Gestalt aus dem Altertum, wie sie in diesem Land zu Abertausenden umherwuselten, Pilger, die plötzlich glaubten, Christus höchstpersönlich zu sein, und für die eine eigene Jerusalemer Klinik eingerichtet worden war, die auf dieses sogenannte Jesussyndrom spezialisiert war. Mönche, die umherliefen, als wären die Kreuzzüge noch nicht vorbei. Priester, die miteinander stritten, welche Stufe in der Grabeskirche der einen und welche der anderen Kongregation gehörte. Seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten lehnte an einem Fenstersims über dem Haupteingang des Heiligtums eine kleine verwitterte Holzleiter, die irgend jemand vor Generationen dort vergessen hatte. Sie konnte seither nicht weggeschafft werden, weil nicht geregelt war, welche Glaubensgruppe dort überhaupt hinlangen durfte. Da waren Muftis, die gegen jedes archäologische Unternehmen in der Altstadt predigten. Die Juden, so wetterten diese muslimischen Geistlichen, wollten den Felsendom unterhöhlen. Aber auch ultraorthodoxe Rabbiner wehrten sich gegen die Ausgrabungen, da die vor Jahrtausenden Verstorbenen durch die Freilegungen in ihrer Totenruhe gestört würden. Einig waren sie sich nur, wenn es darum ging, eine gemeinsame Parade von arabischen und jüdischen Schwulen durch Jerusalem zu verhindern. Die Pressekonferenz der gottvollen Männer in ihren weiten Röcken, im Ornat oder im schlichten Schwarzen, mit Mitra, Spitzkapuze oder Ballonhütchen, geschmückt mit Ringen, Broschen, Medaillons, Amuletten, Steinen, Juwelen und Ketten, war Ethan wie eine Drag Queen Show vorgekommen.
Rabbiner Berkowitsch hörte nicht auf zu reden. Was habe Ethan denn zu verlieren? Erscheine der Messias, werden — das sollte Ethan doch ansprechen — auch die palästinensischen Leiden überwunden sein und Juden und Araber in Frieden miteinander leben. Es würde kein Arm geben und kein Reich. Von ihm werde nur verlangt, hier in dieser Klinik die Abteilung für Genetik aufzusuchen, die an diesem Projekt arbeite.»Ja, Herr Professor, glauben Sie mir. Die Unterstützung für mein Unternehmen wächst.«
«Aber Rav Berkowitsch, mit künstlicher Befruchtung in einer Ehe hat das nichts zu tun. Sie wollen die Gene manipulieren. Das ist ja Eugenik und nicht Gottvertrauen.«
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