«Keine Angst. Sie können mir nicht zu nahe treten.«
«Ich bezweifle, daß es Ihnen nicht um meine Frömmigkeit und meine Gesetzestreue geht.«
Der Rabbiner nahm wieder einen Schluck von seinem Kaffee.»Es ist aber so.«
«Bei allem Respekt, Rabbi…«
Der sah zur Decke. Dann sein mürrisches Lächeln.»Respekt? Ersparen Sie uns das. Ich weiß, was Sie von mir halten. Ich kenne Sie in- und auswendig, Professor Rosen. Sie sehen in mir ein Relikt, ein Fossil aus der Kreidezeit. Ich habe über Sie recherchiert, Ihre Artikel gelesen. Meinen Sie, ich merke nicht, was in Ihnen vorgeht? Wie Sie mich anschauen? Ich stinke Ihnen. Der Fromme im Kaftan bringt Sie zum Schwitzen. So ist es. Wenn ich atme, raubt es Ihnen die Luft. Mein Aufzug engt Sie ein. Meine Kippa bedrückt Ihr Haupt, und meine Schläfenlocken baumeln Ihnen vor den Augen. Nein, ich behaupte nicht, daß Sie unter jüdischem Selbsthaß leiden. - Erstens leidet unter dem Haß der Verhaßte und nicht der Hassende. Zweitens verachten Sie mich nicht mehr als einen Mönch in seiner wollenen Kutte. Drittens stören Sie unsere dicken Gewänder nicht im kalten Norden, sondern bloß in Eretz Israel. Ihre Abneigung, Ihre — wenn ich so sagen darf — Allergie tritt nur in bestimmten Gegenden auf. Viertens weiß ich, daß Sie jeden Deutschen in die Hölle jagen würden, der es wagte, gegen mich das Wort zu erheben. Aber wissen Sie was? Ich brauche Ihre Verteidigung nicht, und Ihren Respekt und Ihre Toleranz können Sie sich auch sonstwohin stecken. - Sie akzeptieren mich? Soll sein. Sie bestaunen meine Glaubenskraft? Sie bewundern mein Gedächtnis? Meine Gelehrsamkeit? Kann sein. Das laß ich mir einreden. Aber Respekt? Von Ihnen? Wem wollen Sie das erzählen? Mir? — Sie denken, es geht mir um Ihren Glauben? Bin ich ein katholischer Missionar? Ich will nur wissen, was einer wie Sie macht. Warum er das macht oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Mich interessiert nicht, weshalb, sondern nur, was. Was sind Sie bereit zu tun.«
«Was kann ich denn machen, damit der Messias erscheint? Am Samstag kein Licht einschalten? Am Morgen Lederriemen umbinden? Auf Schweinefleisch verzichten? Soll ich beten, damit es schneller geht?«Ethan beugte sich vor.»Bedenken Sie doch, Rav: Sie sollten Leuten wie mir, die keine Tefillin legen und den Schabbath nicht halten, dankbar sein. Dankbar! Wegen uns kommt das Ende aller Zeiten nicht. Sie können weiterhin beten und fasten. Sobald der Messias da ist, hört das ganze Larifari auf, und zu allem Überfluß werden alle unsere Verwandten von den Toten auferstehen. Nu, ich frag Sie, Rabbi, wer braucht das? Faßt Ihre Wohnung so viele Besucher?«
Der Rabbiner lächelte spitz:»Es wird genug Platz sein für alle. Auch für Juden und Araber in Eretz Israel. Friede wird herrschen, Herr Professor. Der Mensch wird dem Menschen kein Unmensch mehr sein. Bald schon.«
Er trank die Tasse leer und rief die Kellnerin, bestellte eine Cremetorte, sah Ethan tief in die Augen und flüsterte:»Es gibt Geheimnisse hinter den Buchstaben und zwischen den Zeilen.«
Ethan kannte die Zahlenspiele der Mystiker und ihre kabbalistischen Taschenspielertricks zur Genüge. Er hörte dem Frommen gerne zu, wie er auch einem afrikanischen Wunderheiler, einem Tiroler Wünschelrutengänger oder einem walisischen Spiritisten gelauscht hätte. Ihn konnten solche Gestalten begeistern. Sie waren Studienobjekte. An ihre Magie glaubte er nicht, aber er zweifelte nicht an den unglaublichen Kräften, über die sie verfügten, diese Meister der Manipulation und Suggestion. Sie waren Illusionisten.
«Na, Rabbi, wollen Sie mir erzählen, Sie haben schon errechnet, wann der Messias endlich auf die Welt kommt?«Ethan schmunzelte und legte den Kopf schief. Das wollte er nun bis zuletzt auskosten.
Der Rabbiner nahm einen Bissen von seiner Torte.»Halten Sie sich nicht zurück, Herr Professor. Machen Sie sich ruhig lustig über mich. Ja, stellen Sie sich vor, ich kann es und konnte beweisen, daß in den heiligen Büchern verborgen steht, wann er geboren werden muß. Meine Methode wurde von mehreren Autoritäten anerkannt, bis zum Moment, da ich erklärte, was ich herausgefunden hatte.«
«Wieso?«
Der Rabbiner äffte ihn nach:»Wieso?«Er schüttelte den Kopf.»Jetzt beginnt es Sie zu interessieren, was ich entdeckte, nicht wahr?«Er wisperte:»Ich werde Ihnen, Professor Rosen, den Grund verraten. Ich, Jeschajahu Berkowitsch, habe mit Hilfe meines rabbinisch-talmudischen Wissens entziffert, daß der Meschiach bereits vor langer Zeit gezeugt worden ist.«
Ethan zuckte mit den Schultern:»Das behaupten die Christen auch.«
«Das wurde mir von meinen ehrenwerten Kollegen auch vorgehalten. Und es wurde mir vorgeworfen, ein Ketzer zu sein, ein Schabtai Zwi, ein Abtrünniger. Aber ich behaupte gar nicht, daß der eine, der es sein wird, bereits zur Welt kam, denn noch ist der Löwe dem Lamm kein Freund und der Mensch dem Menschen ein Feind.«
Ethan verzog das Gesicht, als habe er in faules Obst gebissen.»Er wurde gezeugt, aber nicht geboren? Das klingt nach metaphysischer Obstipation! Was kann da helfen? Etwa, daß ich Tefillin lege?«
«Ich weiß nicht, was Sie die ganze Zeit mit den Tefillin wollen. Darum geht es nicht. Das haben wir geklärt. «Rabbi Berkowitsch nahm einen weiteren Bissen von der Torte, nicht ohne einiges von der Sahne auf sein Hemd tropfen zu lassen, und redete weiter:»Was aber, wenn der Meschiach tatsächlich bereits vor Jahrzehnten gezeugt, doch nie geboren wurde?«
«Was soll das heißen?«
«Hören Sie mir zu, Herr Professor. Meine Aufzeichnungen ergaben nicht bloß, daß der Gesalbte schon gezeugt wurde — was meine geschätzten Kollegen genug schockierte. Ich konnte aufgrund der Verknüpfung aller offenen und verschlüsselten Verkündungen sogar bestimmen, wann, wo und von wem. Ja, selbst die Nacht, in der die Frau und der Mann einander erkannt hatten, in einem galizischen Schtetl. All das ließ sich eindeutig feststellen.«
«Eindeutig?«
«Zugegeben: Alles eine Frage der Interpretation, Herr Professor! Soll sein. Aber eben eine mögliche Lesart und zudem die einzige, die von den Gelehrten nachvollzogen werden kann. Doch sie weigern sich, die Konsequenzen zu denken. Sie fürchten das Ergebnis! Die Schlußfolgerung! Das Urteil!«Die letzten Worte hatte der Rabbiner nicht mehr geflüstert, sondern gekreischt, und die Kellnerin schaute zu ihrem Tisch herüber. Er aber achtete nicht darauf. Ethan sah diesen Mann vor sich, dessen Durchdrungenheit wie von einer anderen Welt war. Mit solchem Charisma mochten die Religionsgründer früherer Jahrhunderte ausgestattet gewesen sein. Aber die biblischen Zeiten waren vorbei. Galt einer, der so erfüllt war vom Glauben, heute nicht bestenfalls als Fanatiker oder gar als psychotischer Fall?
Der Rabbiner sprach weiter, fiebrig. Er ballte dabei die Faust.»Was, frage ich, wenn der Meschiach gezeugt wurde, von einem Juden und einer Jüdin im Polen der frühen vierziger Jahre, von einer Frau und einem Mann, deren Abstammung und Herkunft, deren Leben und Leidensweg ich nachzuzeichnen imstande war. Was, wenn alle Vorhersagungen der Schrift sich bewahrheitet haben. Ich kann Ihnen, Herr Professor«, er schlug im Takt seiner Worte auf den Tisch,»die Beweise vorlegen.«
Aus einer Tasche kramte er ein Konvolut von Dokumenten, Notizen und Karten hervor.»Ich habe historische Fakten, Stammbäume, Gemeindebücher, Gerichtsurteile verglichen mit den verborgenen Hinweisen aus den verschiedenen Schriften. Ich habe erkennen müssen, wie alles zueinanderpaßt. Es ist alles verzeichnet. Wir sind gezählt und gewogen, Herr Professor, und wir, ob wir auf Leder stehen oder nicht, wir sind alle, allesamt, für zu leicht befunden worden. Nichts sind wir und nichtig. Es ist verbucht, Herr Professor. Millionenfaches Nichts. Verstehen Sie?«
Zum ersten Mal in diesem Gespräch spürte Ethan gegen seine eigene Überzeugung, daß hinter den Worten des Rabbiners ein bezwingender Gedanke stecken mochte. Eine tiefere Wahrheit. Er begriff noch nicht, worauf der Rabbiner hinauswollte, aber er fühlte, welche Verzweiflung diesen frommen Menschen zu seinen Studien und Nachforschungen getrieben haben mußte.
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