Doron Rabinovici - Anderrnorts

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Weshalb polemisiert der israelische Kulturwissenschaftler Ethan Rosen gegen einen Artikel, den er selbst verfaßt hat? Erkennt er seinen eigenen Text nicht wieder? Oder ist er seinem Kollegen Klausinger in die Falle gegangen, mit dem er um eine Professur an der Wiener Universität konkurriert? Ethan Rosen und Rudi Klausinger: Beide sind sie Koryphäen auf demselben Forschungsgebiet, und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Rosen ist überall zu Hause und nirgends daheim. Selbst der Frau, die er liebt, stellt er sich unter falschem Namen vor. Klausinger wiederum ist Liebkind und Bastard zugleich. Er weiß sich jedem Ort anzupassen und ist trotzdem ruhelos: Was ihn treibt, ist die Suche nach seinem leiblichen Vater; sie führt ihn schließlich nach Israel und zu Ethan Rosen. Dessen Vater, ein alter Wiener Jude, der Auschwitz überlebte, braucht dringend eine neue Niere. Bald wird die Suche nach einem geeigneten Spenderorgan für die Angehörigen zur Obsession. Und selbst der obskure Rabbiner Berkowitsch hat plötzliches Interesse an den Rosens. Herkunft, Identität, Zugehörigkeit — um und um wirbelt Doron Rabinovici in seinem neuen Roman "Andernorts" die Verhältnisse in einer jüdischen Familie, deckt ihre alten Geheimnisse auf und beobachtet sie bei neuen Heimlichkeiten. Am Ende dieser packend erzählten Geschichte sind alle Gewißheiten beseitigt. Nur eines scheint sicher: Heimat ist jener Ort, wo einem am fremdesten zumute ist.»Rabinovici gelingt das Kunststück, seine Prosa unterhaltsam, elegant und leicht, zugleich aber auch ausgesprochen artifiziell, genial und mehrdeutig darzubieten. «Tages-Anzeiger

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Felix schaute wieder zur Decke, entrückt, als ginge ihn das Ganze nichts an. Ethan wußte nicht, was er sagen sollte. War es nicht an Vater oder an Rudi, den Mund aufzumachen? Die beiden aber schwiegen.

Rudi starrte ins Leere. Er kannte hier niemanden. Was sollte er sagen? Seine Mutter war tot. Nie hatte es zwischen ihnen eine Nähe gegeben, wie er sie hier, in diesem Krankenzimmer, spürte. Früh hatte sie ihn zu einer Pflegefamilie nach Tirol gebracht und dort in ein Internat gesteckt. Er war fern von ihr aufgewachsen. Seine Tiroler Zieheltern, knorrige Bergmenschen, hatten ihn geliebt, aber wie einen Marsianer. Sie staunten, wie sehr er einer von ihnen geworden war, doch in Wahrheit barg ebendiese Anerkennung das Bekenntnis, daß er nie wirklich zu ihnen gehören würde. Und daß er ihnen so dankbar dafür war, wie liebevoll sie ihn aufgenommen hatten, bewies, wie fremd er ihnen geblieben war. Dann hörte er Tante Rachel murmeln:»Kennt ihr Dina nicht? Sie wird ihn umbringen. Ihre Niere hat sie ihm gegeben!«

In diesem Augenblick ging ein Ruck durch Felix, und er stöhnte:»Dina!«Niemand blickte in die Richtung, in die er sprach. Sie dachten, er reagiere auf Rachels Einwurf mit einer seiner Phantasien, doch schon rauschte sie herein. Sie umarmte Jaffa, streifte mit ihrem Ohr Nimrods Wange, preßte Schmuel an sich, drückte Rachel und Jossef ein Bussi auf und ließ sich von Ethan küssen.»Seht, wer heute alles hier ist!«Sie sah Rudi.

Alle im Raum hielten den Atem an.

Sie bemerkte das Zögern, sagte:»Schön, dich zu sehen, Rudi, mein Lieber «und drehte sich blitzschnell zu den anderen. Sie bitte nun die Verwandten zu gehen. Sofort. Felix brauche Ruhe. Soviel Besuch auf einmal sei zuviel für ihn. Sie werde sich am nächsten Tag bei allen melden. Versprochen. Und als Rachel widersprechen wollte, herrschte Dina sie an:»Raus jetzt, meine Liebe! Verstanden? Hopp hopp. Das ist ein Spital, kein Kaffeehaus.«

Es war ein Befehl. Alle drängten hinaus, winkten Felix noch einmal zu.

Erst als die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, wandte sie sich um und musterte Rudi von oben bis unten:»Ihr seid euch ähnlicher, als ich dachte. Unverkennbar Brüder. «Sie dürfe ihn doch Rudi nennen. Und er solle Ima zu ihr sagen. Ein Sohn von Felix sei auch ihr Sohn. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Arme entgegen.

Er danke ihr, brachte Rudi hervor.

Dina sah ihn von unten her an.»Was hast du denn gedacht…«Sie atmete durch:»Felix und ich haben uns immer ein zweites Kind gewünscht. Vergeblich. Es ist nun wichtig, zusammenzuhalten, damit Felix gesund wird.«

Der Vater schaute zur Decke, als gehe ihn das Gespräch gar nichts an. Er folgte den Bildern und Szenen, die sich über seinem Kopf abspielten. Die Mutter und Rudi hingegen hatten einander fest im Blick. Ein Doppelpack an unerbittlicher Freude. Ethan stand abseits und sah zu, wie die eigene Familie ihm fremd wurde.

6

Von einem Tag zum anderen waren die Schmerzen beinahe verschwunden. Es blieb ein Nachhall im Rücken. Ein bamstiges Weh, die Erinnerung an das Glühende, das sein Kreuz zerfleischt hatte. Die Ärzte wußten nicht, woher die Linderung kam. Sie hatten nicht herausgefunden, was in ihm vorgegangen war, und nun begriffen sie nicht, wieso er nicht mehr daran litt. An seiner eigentlichen Krankheit hatte sich nichts geändert. Er mußte weiterhin zur Dialyse, und ohne Transplantation würde er nicht mehr lange leben.

Die Trugbilder hielten noch länger vor, aber die Nackten traten in den Hintergrund. Und wenn sie sich zeigten, kamen sie ihm nicht mehr so nah. Hatten ihre Füße eben noch fast die Bettdecke berührt, waren sie nun unerreichbar weit weg.

Schwester Frida nahm seine Phantasien merkwürdigerweise persönlich. Sie wußte, daß Felix nur der Medikamente wegen halluzinierte. Und obwohl sie an der Überdosis nicht ganz unschuldig war, empfand sie die Visionen als Beleidigung. Vielleicht war es auch ihr schlechtes Gewissen, das sie fürchten ließ, Felix, ihr Lieblingspatient, sehe in den Pflegerinnen verkleidete Huren und verdächtige sie, die kleine, fürsorgliche Matrone, heimlich die Puffmutter eines einschlägigen Etablissements zu sein. Meinte er etwa, sie hätte ihm absichtlich zuviel vom Schmerzmittel verabreicht? Sie blickte ihn beleidigt an und schwieg verbissen.

Der Chefarzt beruhigte Felix:»Das sind nur harmlose Nebenwirkungen. Andere werden von Zwangsvorstellungen heimgesucht. Wir können froh sein, daß nichts Schlimmeres passiert ist. Manche Patienten stürzen nach so einem Mißgeschick in eine Psychose.«

Dina tat überrascht.»Hätte ich dir gar nicht zugetraut. «Und dann ein wenig spitzer:»Hast du dabei etwas Neues dazugelernt?«

Felix wollte nicht mehr im Krankenhaus bleiben. Er bekam eine Gehhilfe, die er zu Hause kaum verwendete, weil er zu stolz dafür war. Als er zum ersten Mal wieder auf die Straße wollte, stürzte er. Dina schrie, ein Nachbar kam gerannt und versuchte, ihm aufzuhelfen, der Portier des Hochhauses, in dem sie wohnten, wollte den Krankenwagen rufen, doch Felix wehrte jede Hilfe ab. Langsam stand er wieder auf, schaute sich um und nickte. Seht her, das ist Felix Rosen, und er steht auf eigenen Beinen.

Sie besuchten die Eltern täglich und brachten Essen mit. Die ganze Wohnung war vollgeräumt. In der Ecke stand ein kleines Biedermeiertischchen mit edlen Intarsien, die niemand sah, weil darauf ein Tuch mit feinster Brüsseler Spitze lag, das wiederum unter einer in allen Farben schillernden Glasvase, einer flammenden Kreation im Popstil der Siebziger, verborgen war, aus der ein Blumenstrauß aus knallgelben Gerbera und weißen Rosen sproß. Die Garderobe war Pariser Art deco, davor Plastiksessel, daneben ein Bauernschrank. Die Räume ähnelten einem Depot, in dem verschiedene Sammlungen durcheinandergeraten sein mußten. Hier residierten die Rosens, hier hatten sie sich nach Jahrzehnten globaler Geschäftigkeit niedergelassen, eingezwängt in ihre Erinnerungen. An den Wänden hingen Werke frühzionistischer Künstler neben den Bildern europäischer Maler des neunzehnten Jahrhunderts.

Die Fenster waren dicht verschlossen. Die Hitze blieb ausgesperrt. In jedem Zimmer surrte eine Klimaanlage. Kältestarre. Sibirischer Frost. Ethan hatte Noa gewarnt. Sie hatten Jacken mitgebracht, hatten sie durch die Gluthitze geschleppt, um sie sich nun umzuhängen.

Bei einem ihrer Besuche sagte Felix zu Ethan:»Zwischen uns ist alles, wie es war. Du bist schließlich keine Krämerseele. Er nimmt dir nichts weg. Ginge es ums Geld, ließe sich alles leicht regeln. Wir könnten Vereinbarungen treffen, die Erbschaft sichern. Ein Testament aufsetzen. Aber darüber hat er kein Wort verloren. Und du hast auch noch nie davon geredet. - Merkwürdig eigentlich.«

Auch die Mutter hatte Rudi ins Herz geschlossen, so fest, daß es Ethan beim bloßen Anblick den Brustkorb zusammenschnürte. Rudi wiederum genoß die Überschwenglichkeit der Eltern, vor der Ethan von jeher geflüchtet war. Rudi fühlte sich geborgen. Angenommen.

Ethan hätte zufrieden sein können. Da war einer, der sehnte sich nach dem, womit er verschont werden wollte.

Doch er freute sich nicht darüber. Er fühlte sich unter ständiger Beobachtung. Jede seiner Regungen wurde, so schien ihm, registriert, und das engte ihn erneut ein. Er begann, sich selbst zu belauern, und der Gedanke, es werde von ihm verlangt, offen auf Rudi zuzugehen, machte ihn nur noch verschlossener.»Was stört dich so, Tuschtusch? Ich bin dein Vater. Ich sehe es dir an. Der Ehebruch ist es doch nicht, oder? Hätte ich zu Tante Rachel, zu Onkel Jossef und Jaffa etwa sagen sollen, meine lieben Anverwandten, das da, dieser fremde Gast hier, ist der späte Auswuchs eines meiner verirrten Samenergüsse und einer wild gewordenen Eizelle? Nu, Ethan, wäre dir das lieber gewesen? Hätte dir doch auch nicht gefallen. Ich kenne dich.«

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