Ethan konnte nicht widersprechen. Solange er lebte, war sie Dov nie ganz nahe gewesen. Als Witwe blühte sie indes auf. War es denkbar, daß er ihr verheimlicht hatte, Vorkehrungen für den Tod zu treffen? Schließlich hatte er ihr vieles verschwiegen. Und treu war er ihr auch nicht gewesen. Selbst als Greis pflegte er romantische Bekanntschaften; nicht mehr leidenschaftliche Affären, aber innige Verliebtheiten. Er belog sie nicht. Immerhin wußte sie, wie unverbindlich er von jeher lebte. Ausschließlichkeit hatte er ihr nie versprochen. Auch das war nun anders, seitdem sie ihn begraben hatte. Nun war sie die einzige, die Eigentliche, wenn auch bloß, weil sie ihn spät genug kennengelernt und ausreichend lange ertragen hatte.
Womöglich wollte Dov sie einfach nicht mit dem Gedanken an sein Ableben belasten. Die Tonbänder hatte er hinter ihrem Rücken besprochen. Nachts. Sie hatte geschlafen. So konnte es gewesen sein. Er richtete sich darauf ein, mit ihr über Felix zu reden und ihr vielleicht ein wenig von Noa zu erzählen, aber zu seiner Überraschung war sie es, die von Rudi Klausinger zu sprechen begann. Sie hatte von dem Nachruf in der Wiener Zeitung gehört.»Was für eine Gemeinheit«, sagte sie.»Dieser Mensch muß ein Schwein sein. Ein Antisemit. Ein Nazi.«
«Katharina, jetzt übertreibst du.«
«Mein Lieber, ich weiß, worum es geht. Ich kenne meine Pappenheimer. Unter meinen eigenen Verwandten sind solche Typen. Ich bin froh, daß du ihm geantwortet hast. Gut, daß du aufgezeigt hast, was für ein Rassist er ist.«
«Das habe ich doch gar nicht geschrieben.«
«Natürlich nicht. Aber alle haben verstanden. «Sie steckte sich eine Zigarette an und zog scharf daran:»Egal. Vergiß ihn einfach. Er ist es nicht wert, sich mit ihm abzugeben.«
«Ich traf ihn gestern in Tel Aviv.«
Sie konnte es nicht glauben. Klausinger der illegitime Sohn von Felix? Ethans Halbbruder? Er spreche Hebräisch? Bald aber faßte sie sich wieder.»Ich kenne diese Sorte. In Wien schreibt er einen Artikel gegen Dov, und hier will er Teil der Mischpoche werden. Und die Geschichte mit Felix! Dein Vater ein Don Juan? Ich bitte dich. Ich könnte mich nackt vor ihm hinlegen, und er würde sagen: Pardon, mein Herr, und so tun, als bemerke er nicht, wer ich bin. Felix doch nicht! Dieser Rudi Klausinger nutzt seine Krankheit aus.«
«Katharina, dieser Rudi Klausinger ist überzeugt, mit uns verwandt zu sein. Und Felix war eindeutig. Er hat es bestätigt.«
«Nimmst du ihn schon in Schutz, weil er dein Bruder sein soll? Früher versuchten Juden, um zu überleben, als Arier zu gelten. Nun fahnden Kinder ehemaliger Nazis nach Vorfahren, die als Sarah und Israel verfolgt wurden, um instant koscher zu werden. Rudi Klausinger hat sich seinen Felix Rosen gefunden.«
«Da oben sind nackte Frauen, Männer auch. «Stellungen, die er noch nie gesehen habe. Ein Gestöhne und Geseufze ohne Ende. Das reinste Pornokino. Er ächzte die Worte, lag zerschlagen da. Vor der Dialyse habe er sich gefühlt wie eine Fischleiche, aufgequollen und faulig, jetzt fühle er sich leer. Er lächelte gequält.»Und hier, auf der anderen Bettseite, steht manchmal ein Herr. Übrigens sehr elegant. Muß ich sagen. In der Hand einen Spazierstock mit rundem Messinggriff. Überaus freundlich. Der nickt mir zu, und wenn er zum Fußende gleitet, dann verschwimmt seine Figur wie hinter gewölbtem Glas. Dort scheint er dünn, da dick. Eine Gestalt aus dem Lachkabinett. «Er winkte ins Leere. An seinem Arm der Shunt für die Blutwäsche, nicht weit davon die Tätowierung aus dem Lager.
«Er schwebt auf und ab. Hier vor mir. So klar wie du… Ich weiß, daß er nur Einbildung ist. Mein Gehirn sagt mir, ich darf meinen Augen nicht trauen. Verstehst du? — Ich bin ganz klar im Kopf. Es ist eine optische Täuschung. Aber ich durchschaue sie. Und du ahnst nicht, wer mich seit gestern besucht. Ein gemeinsamer Freund von uns allen. Der alte Dov Zedek. So lebendig wie du. Er stand da und sprach mir Mut zu.«
Ethan horchte auf.»Könnte es sein«, murmelte er,»daß Dov nicht wirklich gestorben ist?«
«Ethan, liege ich hier oder du? Bekomme ich Morphium oder du? Habe ich Halluzinationen oder du? Dov Zedek ist gestorben, begraben. Er ist tot! Begreife es, Junge. Er ist nicht mehr. Was ich sehe, sind Trugbilder, und ich weiß es. Ich bin ganz klar im Kopf, Ethan. Ich könnte jetzt sofort Geschäfte mit dir machen. Dov ist tot. — Aber was kommt nach? Was bleibt übrig?«
Ethan kannte die Geschichte, die nun folgen würde. Ein alter Freund, Stahllieferant, hatte Felix vor einem Jahr angerufen. Er war eines Tages zur Bank gegangen. Am Schalter erfuhr er, daß der Sohn, zeichnungsberechtigt, alles Geld vom Geschäftskonto abgehoben hatte. Der Metallhändler war außer sich, rief den Jungen an. Weshalb der Bub die Einlagen transferiert habe? Das Geld sei nun auf seinem Sparbuch, habe der seelenruhig geantwortet. Wieso denn? Warum er so etwas mache? Er sei doch ohnedies sein Nachfolger. Er würde sowieso alles nach seinem Tod bekommen. Solange werde er doch noch warten können. Aber der Rotzbengel antwortete, er habe eigene Pläne. Er brauche die Investition jetzt, sofort. Warum, so fragte der Alte, habe er nicht darum gebeten? Was er sich erlaube? Ob er seinen Eltern keinen Respekt schulde? Und überhaupt! Das Kapital sei doch nicht ihr Privatbesitz, sondern Firmeneigentum. Er sei schließlich bei seinen Partnern im Wort. Er schulde denen jetzt Geld. Er müsse Verbindlichkeiten gegenüber Kunden begleichen. Der Vater hatte am Ende gar mit dem Anwalt gedroht. Wenn er nicht zur Vernunft komme, müsse er ihn, den Sohn, vor Gericht bringen.»Wie du willst«, habe der geantwortet.»Aber dann melde ich alles der Finanz. Dann verlierst du viel mehr. Dann bleibt dir nichts.«
Felix liebte es, solche Geschichten zu erzählen, sprach von den Greisen, die ihr ganzes Leben und den Aufbau des Landes niemand anderem als ihrem Nachwuchs gewidmet hatten, der Jeunesse doree des Kleinstaates. Diese Alten, den Lagern entkommen, seien hierhergeflüchtet, um Frieden zu finden… Und was sei daraus geworden?
Ethans Mobiltelefon klingelte. Er verließ den Raum, stand im Gang.»Professor Rosen? Hier spricht Rav Jeschajahu Berkowitsch.«
«Ja?«
«Verzeihen Sie, Professor Rosen, wenn ich Sie behellige, aber ich muß Ihnen ein Geheimnis verraten.«
«Müssen Sie?«
«Wenn ich es Ihnen doch sage. Sie können mir helfen und nicht nur mir, sondern allen Juden, ja, der gesamten Menschheit.«
«Ich fürchte, Rav, Sie sind falsch verbunden. Ich gebe nichts.«
«Wer redet von Geld? Im Gegenteil. Es geht um eine Hinterlassenschaft.«
«Ein Erbe?«
«Eher ein Vermächtnis.«
«Die Tradition? Sie wollen mich zum Glauben zurückholen?«
«Werter Herr Professor, ich habe gehört, daß ich bei Ihnen keine Chance habe. Sie haben heute keine Tefiilin gelegt, gestern nicht und werden sich morgen keine umbinden. Und wissen Sie was? Ich weiß sogar, warum.«
Und ehe die nächsten Worte sein Ohr erreichten, sah Ethan den fetten Hintern vor sich, erinnerte er sich an das Wippen im Flugzeug, dachte er an den Orthodoxen, der sich ins Gebet geworfen hatte, hin und her, als gelte es, das Flugzeug zum Absturz zu bringen, und da hörte er den Geistlichen sagen:»Sie stehen nicht auf Leder!«
«Sind Sie der Fromme, der im Flieger neben mir saß?«
«Nein. Ich sagte doch, ich bin Rav Berkowitsch.«
Im selben Moment begriff Ethan, mit wem er es zu tun hatte, und er erinnerte sich, über diesen Rabbiner Berkowitsch in der Zeitung gelesen zu haben. Eine geistige Autorität. Ein ultraorthodoxer Führer, der im Hintergrund der religiösen Fraktionen agierte.
«Der Chassid, der damals mit Ihnen flog, arbeitet für mich. Ich habe, Herr Professor, Erkundigungen über Sie eingezogen. Es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, derentwegen ich Sie sprechen muß. Es geht um Ihre Familie. Um Ihre Verwandtschaft. Ich kann Ihnen ein Geheimnis verraten, von dem niemand weiß und das Ihre Vorfahren und auch Sie betrifft.«
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