Jetzt stand Ethan draußen und telefonierte. Felix war nicht mehr bei Bewußtsein. Die Infusion schien hoch dosiert gewesen zu sein. Er wimmerte im Schlaf, wisperte zuweilen vor sich hin. Satzteile, ein Schnaufen, ein Knurren, als spräche ein Tier. Einzelne Wörter ließen sich erahnen. Hatte er eben Ethan gesagt? Und Dina und Brüder? Rudi versuchte, sich aus dem Griff dieses Mannes zu winden, aber jedesmal, wenn er seine Hand aus der von Felix lösen wollte, sachte, ohne ihn zu wecken, spürte er die Finger stärker nach ihm fassen. Merkwürdigerweise fühlte er sich weniger eingeengt als gebraucht und aufgehoben in den Krallen des Kranken.
Noch während er gegen die zähe Kraft des Alten ankämpfte, hörte er Ethan eintreten.»Lassen Sie gefälligst meinen Vater in Ruhe. Was machen Sie denn da?«
Endlich gelang es Rudi, den Griff des anderen zu lockern, und im selben Moment öffnete der die Augen.
«Nackte«, sagte Felix. Er starrte zur Decke, als laufe da oben ein Film ab.»Schau… Hier… Schaut doch. Ein Dschungel. Beine… Hintern, Arme und Brüste… Ein Fresko. — Die treiben es miteinander. Die bumsen. Seht ihr es nicht? Hört ihr nichts? Die Lustschreie!«
Eine Pflegerin kam ins Zimmer. Sie schaltete das Licht ein und brachte das Abendessen. Felix sah sie gar nicht. Sie fragte, ob sie seine Teekanne abräumen könne. Ethan nickte. Als sie wieder hinausgegangen war, sagte Felix:»Zum Glück hat sie nichts bemerkt. Dabei ist das… doch nicht zu übersehen.«
«Da ist nichts, Abba«, erklärte Ethan.
Aber Felix sah an ihm vorbei zum Plafond und murmelte:»Was weißt denn du?«
«Es wird alles gut.«
«Du hast ja keine Ahnung.«
«Hab keine Angst. Das ist nichts Schlimmes.«
«Es ist pervers. Eine Orgie. «Felix schaute ihn an, sah durch ihn hindurch.»Du meinst, ich sehe, was gar nicht da ist. Aber du siehst ja nichts. Nichts siehst du. Verstehst du? Nichts.«
Er schloß die Augen und wisperte:»Brüder seid ihr. Hörst du? Brüder. Sag der Schwester, du brauchst eine Infusion. Dann hast du keine Schmerzen mehr, und du wirst alles sehen.«
Draußen war es dunkel geworden. Die Straßenlaternen gingen an. Felix nickte ein. Er schnarchte. Ethan ging zur Tür. Rudi folgte ihm hinaus, nachdem er das Licht im Zimmer ausgeschaltet hatte.
«Er halluziniert«, sagte Ethan. Zu zweit gingen sie zum Lift.»Verstehen Sie, Klausinger?«
«Nenn mich Rudi.«
Sie warteten auf einen der Aufzüge. Es klingelte, als einer ankam, aber er war überfüllt. Noch ein Läuten und wieder ein Fahrstuhl. Auch hier dichtes Gedränge, doch diesmal stiegen sie ein. In jedem Stockwerk ein Stopp. Im Erdgeschoß eilten sie hinaus und stritten sich weiter. Ethan blieb beim Sie, Rudi duzte ihn. Der Sabre hielt Distanz, während der Österreicher auf jede Form verzichtete. Klausinger wechselte ins Hebräische, das er fließend beherrschte. In Ivrit konnte keiner den anderen siezen, doch Ethan fügte in seine Sätze ein Herr Klausinger ein.
«Er ist nicht richtig bei sich, Herr Klausinger.«
«Er ist mein Vater, und wir sind Brüder, Ethan.«
«Auch eine Überdosis abbekommen?«
«Ich fand Briefe im Nachlaß meiner Mutter.«
«So ist das mit Nachlässen.«
«Liebesbriefe.«
«Ödipale Eifersucht?«
«Der Mann zeichnet als Motek. Er nennt sie Dschindschi. Wie viele in Osterreich kannten damals hebräische Begriffe? Er will sie in der Seilerstätte treffen.«
«Na und?«
«Du weißt es. Dort hatte Felix sein Büro.«
«Das beweist nichts. Mein Vater hätte sein Kind nie im Stich gelassen. Nie! Er ist kein Feigling.«
«Er wußte nichts von mir. Das ist es ja. Er hatte keine Ahnung. Das war ihre Rache an ihm.«
Sie kamen zum Taxistandplatz. Rudi fragte:»Sollen wir gemeinsam fahren?«
Ethan stieg in den ersten Wagen und fuhr davon.
Avi Levy hatte in der Bäckerei gestanden, das Mehl gestreichelt, den Teig geknetet, darüber geschwitzt und gestöhnt, die Bälge in den Ofen geschupft, die Schaufel wie ein Ruder geschwungen, den Brotlaib bestäubt, ein Lied gesummt, und all das voller Leidenschaft, als ginge es ihm nur ums eine, und die Kundinnen konnten ihm vom Vorraum aus zuschauen, wenn er sich mit muskulösem Oberkörper und im ärmellosen Unterhemd in die Arbeit kniete, das Feuer anfachte, bis die Funken sprühten, und die Masse walkte und massierte.
Ob Wecken oder Fladen, ob Semmel oder Pita, jedes Stück, so Saba Avi, der Großvater, zu Noa, schmecke ein wenig nach ihm, und im Vertrauen erzählte er, wie wichtig es für einen Bäcker sei, gut zu riechen. Sie hatte als Mädchen gesehen, wie der Großvater seine Kundinnen empfangen hatte, wie er sie umsorgt und ihnen nachgeblickt hatte. Avi Levy war ein Meister, wenn es ums Einheizen und Anbraten ging, und er war Feuer und Flamme für all die Damen, die ihn besuchten.
Noa erinnerte sich. Sie sah den Großvater in der Backstube, sah, wie Frau Efron am Brot roch, und hörte sie sagen:»Wie das duftet«, und dabei blickte sie dem Großvater tief in die Augen, bis er sie anlächelte, und die Ventilatoren im Laden wirbelten um einiges schneller, und die Luft war so aufgeladen, daß die kleine Noa den Atem angehalten hatte, und der Atem stockte ihr heute noch, wenn sie daran dachte.
Ihre Eltern waren geschieden. Sie lebten in neuen Beziehungen. Wieso traute Ethan dem eigenen Vater keinen Seitensprung zu? Warum wollte er nichts davon wissen? So viele Rosens gab es doch nicht mehr. Er hatte ihr ein Album gezeigt. Das kleine aschkenasische Grüppchen aus Tanten und Cousinen. Er sei als Bub von diesen jiddischen Mames in die Wangen gekniffen worden. Der typische Zwickparcours. Das waren die Streicheleinheiten gewesen, die ihm als Kind zuteil geworden waren, denn die übergroße Liebe hatte keine milden Gaben zugelassen. Die Innigkeit war schonungslos. Warum sie nicht ein wenig mit Rudi Klausinger teilen? Wäre ein Halbbruder aus Favoriten nicht eine Bereicherung? Könnte so einer nicht helfen, die Familienbande ein wenig zu lockern?
Unentwegt hatte sich Ethan über die Enge in seiner Sippschaft beklagt. Und jetzt endlich kommt eine Wiener Mischkulanz daher, sprengt diese jüdische Version der Heiligen Dreifaltigkeit, stellt sich zwischen ihn, Dina und Felix, ist das Corpus delicti eines Ehebruchs, zwingt den treuen Ehemann zum Geständnis, und wie reagiert der anerkannte Kulturforscher, der Experte für die Dekonstruktion aller Mythen, der Meister aller geisteswissenschaftlichen Relativitätstheorien? Was macht der große Tabubrecher? Er verkündet, sein Abba, sein Vati, könne unmöglich eine Affäre gehabt haben. Selbst wenn der es zugibt.
Sie lagen im Bett. Umm Kulthum schluchzte ein Lied. Geigenmusik, die Kapriolen schlug. Er küßte sie, da läutete das Telefon.
Er möge sich die Briefe doch wenigstens anschauen, schlug Rudi vor. Ethan solle selber entscheiden. Vielleicht erkenne er die Handschrift. Sei er denn an der Wahrheit überhaupt nicht interessiert?
Ethan sagte:»Was beweisen schon solche Briefe? Selbst wenn sie einander liebten. War Felix Rosen der einzige Mann in ihrem Leben?«
«Hast du etwa Angst, sie dir anzuschauen? Fürchtest du, zugeben zu müssen, daß Felix sie schrieb?«
Er sah Noa ins Badezimmer verschwinden. Tschuptschik, der Kater, sprang vom Kleiderschrank und rannte ihr hinterher.
Sie einigten sich auf ein Lokal in der Shenkin.
Eine Stunde später saßen sie zu dritt vor dem Cafe. Noa war von der Ähnlichkeit der beiden überrascht. Rudi war eine südlichere, eine im landläufigen Sinne gefälligere Ausgabe von Ethan. Die Kellnerin, eine zierliche Person mit Dreadlocks unterm Turban, brachte die Getränke. Vorsichtig gruppierte sie alles um die Briefe und Dokumente herum. Einen Cappuccino für Ethan, Campari Soda für Noa und eine Flasche israelisches Bier, Goldstar, für Rudi. An einem Nebentisch diskutierte eine Gruppe junger Leute, einen American Pit Bull zu ihren Füßen. An einem anderen turtelte ein junges Paar. An einem dritten schwiegen sich drei Männer aus, ließen die Augen sprechen, blickten Frauen hinterher. In einiger Entfernung spielte ein Gassengeiger, saß zerlumpt auf der Erde. Einzelne Töne wehten herüber. Russische Folklore.
Читать дальше