Felix und Dina fragten Noa nach ihren Eltern und Großeltern. Ethan kannte dieses Ritual. Sie taten gerne so, als wären alle Juden auf der ganzen Welt ein einziges Familienunternehmen. Abba erkundigte sich nach ihrem Nachnamen, und beide, Mutter und Vater, sahen einander vieldeutig an. Dina meinte, sie würden Noas Verwandte kennen. Ethan sah zur Decke und seufzte, doch sie ließen sich nicht beirren. Wo ihre Eltern wohnten? Was sie beruflich machten? Noa erzählte von der Scheidung, erzählte von ihrem Großvater, seiner Bäckerei, dem Zuckerwarengeschäft in Jerusalem, von ihrem Vater, der gemeinsam mit seinem Freund, Menasche Salman, eine Firma für fotografische und optische Waren besessen hatte.
«Salman? Der Fotograf? Den kennen wir gut!«
«Wirklich? Er ist aber kein Fotograf.«
«Was redest du, Felix«, rief Dina.»Seit wann ist Salman Fotograf?«
«Ja, heute steht er in seinem Fotokopierladen! Früher rannte er mit einer Kamera herum.«
«Was für ein Fotokopierladen«, widersprach Ethan.»Das ist eine Kette, die optische und elektronische Geräte verkauft. Die haben Filialen in Haifa, Tel Aviv, in Beer Sheva, in Eilat. Glaubt ihr etwa, es gibt nur einen Salman in Jerusalem?«
«Was mischst du dich ein? Was ist dein Problem? Du kennst doch Salman überhaupt nicht. Das ist der mit der Glatze…«
«Haare hat er tatsächlich nicht mehr viele«, gab Noa zu.
«Sag ich doch. Ein alter Freund. Mit so einem Bauch.«
«Na ja, derart dick ist er nicht.«
«Schau, wie sie ihn in Schutz nimmt«, lachte Dina. Aber Felix sorgte sich:»Er hat abgenommen. Wie geht es seinen Beinen?«
«Er betreibt Nordic Walking.«
Dina sagte:»Wunderbar! Kein Wunder, daß er nicht mehr so dick ist. Hörst du, Felix. Das Bein ist geheilt. Sogar ein paar Haare sind ihm gewachsen. So ist er — unser Salman!«
Der Vater wurde stiller. Er schob den Unterkiefer vor.
Die Augen wurden schmal. Er stützte den Oberkörper mit dem Arm ab. Ihm war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, die Schmerzen zu überspielen. Dina hatte ihm eine Suppe mitgebracht, aber Felix war nicht imstande, einen Löffel zu essen. Noa füllte Wasser in einen Schnabelbecher, aus dem Vater trinken konnte, ohne sich aufsetzen zu müssen. Er dankte ihr mit einem Nicken. Er war nun gänzlich verstummt.
Später kam die Visite, und sie wurden gebeten, das Zimmer zu verlassen. Sie standen im Gang, und als die Ärzte fertig waren, trat der Chefarzt auf Dina und Ethan zu. Noa machte einen Schritt zurück. Sie hole Kaffee für alle.
Sie wüßten noch immer nicht, sagte der Mediziner, woran Felix eigentlich leide. Die Niereninsuffizienz sei es nicht. Hier gehe es wohl um eine lokale Infektion oder einen eingeklemmten Nerv. In der Nacht habe Felix so laut geschrien, daß andere Patienten davon aufgewacht seien.
Als sie wieder ins Zimmer traten, winkte der Vater Ethan heran. Er setzte sich dicht ans Bett. Felix raunte:»Sie ist besonders. Wunderschön und klug.«
«Du kennst doch unseren Sohn. Sag ihm lieber, dir mißfällt Noa«, mischte sich Dina ein.
«Laßt mich doch bitte in Ruhe.«
«Siehst du? Überall und immer dagegen. In Paris die Arbeit über Kolonialfilme, in Jerusalem die Studie über Palästinenser in der Literatur. In Tel Aviv die Vorträge über diese muslimischen Ruinen. Den Österreichern redet er vom Antisemitismus, und in Chicago wolltest du unbedingt den Kommunismus einführen. Aber als Vater dich in die DDR mitnahm, mußtest du ausgerechnet sowjetkritische Literatur einpacken.«
«Und die Forschungseinladung nach Tirnovo«, warf Felix ein,»kaum angekommen, referierte er über die Situation der Roma in Bulgarien.«
«Hatte ich unrecht?«
«Ein Besserwisser bist du! Ein Herr Klug! Mit noch vollen Koffern gibst du schon allen Bescheid.«
Er war diesen Hohn gewohnt. Sie hatten ihn darauf getrimmt, ein kleines Genie zu sein, um es ihm gleichzeitig vorzuwerfen. Als Volksschüler war ihm von der Mutter bereits ausgerichtet worden:»Du bist ein echtes Wunderkind. Das Wunder wird gehen, und das Kind wird bleiben.«
Mitten im Streit stöhnte der Vater auf. Er müsse sofort auf die Toilette. Er keuchte, kam aber nicht hoch. Der Schmerz schraubte ihn nieder. Ethan versuchte, ihm zu helfen, aber der Vater begann zu wimmern, als er ihn anfaßte, weshalb er ihn wieder losließ, worauf der Vater schrie, warum er denn nachlasse. Als Felix endlich stand, schnaufte er, als habe er eine Bergtour hinter sich. Bei jedem Schritt ächzte er, doch am schlimmsten wurde es, als er sich hinsetzen wollte. Er war nicht imstande, das rechte Bein abzuwinkeln. Er konnte kaum hocken, und als er fertig war, rief er, er käme nicht mehr hoch. Sie mußten ihn hochstemmen und stützen, während er sich die Hände wusch.
Dann der Weg zurück. Während er sich hinlegte, hechelte er.»Langsam. Ganz langsam! Hörst du? Holt mir Frida. Ich halte es nicht mehr aus. Eine Infusion! Schnell!«
Er fand Noa vor der Kaffeemaschine.
«Hast du es denn nicht bemerkt? Wie er versucht hat, zu überspielen, wie schlecht es ihm geht… Wie er sich vor mir zusammengenommen hat? Begreifst du denn nicht?«
Gemeinsam gingen sie zurück ins Krankenzimmer. Schwester Frida war dagewesen. Felix lag unter der Infusionsflasche. Das Schmerzmittel wirkte. Sein Blick schien gedämpft. Ein wenig glasig. Die Anspannung war aus dem Gesicht gewichen. Dina stand vor dem Bett und streichelte ihn. Sie würden jetzt in die Stadt fahren, flüsterte sie ihm zu. Er lächelte erschöpft.
«Ja, bitte. Geht nach Hause. Alle drei. Ich brauche Schlaf. Ihr müßt euch auch ausruhen. Geh, Ethan. Mach dir keine Sorgen. Bring Dina und Noa nach Hause. Und nimm den Schleier von deinem Gesicht. «Und dann, als die anderen einander anblickten, winkte er Noa zu:»Guten Tag, Frau Doktor.«
«Aber Vater, das ist doch Noa.«
Er schaute sie an, als müsse er durch einen Nebel hindurchblicken. Waren es die Schmerzmittel? Oder trieb er — wie früher so oft — seine Scherze? Schon waren Felix die Augen zugefallen, und er schnarchte leise. Sie gingen zum Lift, fuhren in die Eingangshalle hinunter und trotteten zum Parkplatz.
Ethan griff in die Tasche.»Ich habe mein Telefon vergessen.«
Das sei doch egal, meinte Dina. Er komme ja ohnedies am nächsten Tag wieder, doch Ethan reichte Noa wortlos die Autoschlüssel und rief im Laufen:»Fahrt ohne mich. Ich komme mit dem Taxi nach. Bald schon.«
Da stand der andere, kein Doppelgänger, keine Täuschung. Da war er, der Gegenspieler. Neben Vaters Bett. Gebräunt, als hätte er ein ganzes Jahr am Strand verbracht, ohne Brille und auch ganz anders gekleidet als bei jenem Treffen vor wenigen Tagen in Wien. Felix Rosen schnarchte nicht mehr. Im Gegenteil. Er sah munter aus und lächelte.
Ethan starrte ihn an. Er blickte von Klausinger auf seinen Vater und wieder zurück. Dann trat er auf den anderen zu. Heiser, ein Zittern in der Stimme, fragte er:»Was machen Sie denn hier?«
Klausinger sah zu Boden und wich einen Schritt zurück.»Es wäre wohl besser, wenn ich gehe.«
«Am besten wäre es, wenn Sie nicht hergekommen wären. «Ethan drängte ihn noch weiter zurück.
«Ich wollte mit Felix allein sein.«
«Wozu?«
«Hör auf, Ethan«, sagte Felix.
«Weißt du, wer das ist, Abba? — Lassen Sie meinen Vater in Frieden. Er ist schwer krank.«
«Rudi, Rudi Klausinger«, sagte Felix, und diese Worte brachten Ethan zum Schweigen. Hatte der Alte alles arrangiert? Waren die Schmerzattacken, sein Halluzinieren, sein Einschlummern bloß gespielt gewesen? Hatte er sie deshalb nach Hause geschickt? War es nur darum gegangen, eine Verabredung mit Klausinger einzuhalten? Und was wollte der Wiener von Vater?
Klausinger stand da, verstummt, versteinert. Er schaute auf Felix, als erwarte er von ihm eine Erklärung. Ethan glotzte ihn an. Einen israelischen Geschäftsmann, einen Überlebenden hatte Klausinger erwähnt, als er vom Geliebten seiner Mutter gesprochen hatte. Er glaubte doch nicht, ausgerechnet in Felix Rosen diesen Mann gefunden zu haben?
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