Ethan sah die Briefe durch. Sie können nicht von seinem Vater stammen, sagte er. Der habe eine andere Handschrift. Der formuliere auch ganz anders, viel klarer, nicht so verspielt wie der hier.
Noa widersprach.»Das ist kein Geschäftsschreiben, sondern eine Liebeserklärung. Und vor vierzig Jahren wird Felix romantischer gewesen sein als heute während der Dialyse.«
Rudi nickte. Sein Bruder, sagte er, ja, er sagte sein Bruder, werde nichts zugeben, solange ihm nicht ein Foto, am besten ein Film präsentiert würde, in dem zu sehen sei, wie Karin Klausinger es mit Felix Rosen getrieben hatte, wie seine Mutter daraufhin schwanger wurde und ihn zur Welt brachte, und nur, wenn sie beide zum Abschluß auch noch in die Kamera erklären würden, daß Ethan und Rudi Halbbrüder seien, dann könnte er — vielleicht — die Wahrheit akzeptieren. Doch wahrscheinlicher wäre, daß er auch dann noch meinte, es handle sich um nachgestellte Szenen. In Wirklichkeit fühle Ethan jedoch genau, wie unhaltbar seine Position geworden sei.»Du belügst dich selbst. «Er rief der Kellnerin zu, er wolle ein weiteres Goldstar.
«Du unterstellst mir eine Lüge? Ausgerechnet du?«Ob es etwa Zufall sei, daß Rudi sich für denselben Job beworben, den Nachruf auf Dov verfaßt und dafür auch noch ihn, Ethan, zitiert habe? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, mit einem Halbbruder um ein und dieselbe Stelle zu konkurrieren und gleichzeitig mit ihm einen öffentlichen Disput auszutragen? Und nicht nur das. War Rudi etwa nicht längst mit Felix in Kontakt gewesen? Es sei ihm doch immer nur um seine Stelle gegangen, nichts anderes stecke hinter der ganzen Geschichte. Ja, seine, denn sie war doch Ethan auf den Leib geschneidert worden. Ethan sagte:»Du hast den Nachruf nicht für Dov, sondern gegen mich geschrieben.«
«Was soll ich getan haben? Bist du paranoid?«
«Ich bin deine fixe Idee.«
Rudi tat so, als höre er gar nicht mehr zu.»Mach kein Mysterienspiel daraus. Was ist ungewöhnlich daran, wenn ich einen Nachruf für einen Wiener Überlebenden schreibe? Ich mache das immer wieder. Und bist du nicht ein renommierter israelischer Intellektueller? Wieso nicht dich zitieren? Ist es verboten?«
Noas seidenes Lächeln.»Nein«, sagte sie,»es ist natürlich erlaubt, die Worte des eigenen Halbbruders zu zitieren, nicht aber seinen Namen zu nennen. Es ist bloß bezeichnend.«
Ethan schrie:»Du wußtest, wer ich bin. Diese ganze Inszenierung, die Debatte in der Zeitung, alles eine Lüge. Von Anfang an. Deshalb glaube ich dir nicht. Du bist nicht mein Bruder. Du bist nur irgendein Bastard mit Hintergedanken.«
Ja, ein Bastard, feixte Rudi. Jawohl. Das sei er von Anfang an gewesen. Und nur deshalb akzeptiere ihn Ethan nicht, das habe er immer gewußt.
«Was denkst du dir eigentlich? Du kannst ihm doch nicht vorwerfen, ein Bastard zu sein«, fuhr Noa ihn an. Ihre Stimme war heiser geworden.»Ihr zwei seid einander wert.«
«Ich scheiß auf dein Verständnis. Ethan trifft zumindest den Punkt. Ich bin ein Bastard. Ein Mamser. Das hört mit der Kindheit nicht auf, sondern begleitet einen durchs ganze Leben. «Er rückte mit dem Sessel vom Tisch weg.
Der American Pit Bull, der unter dem Nebentisch lag, sprang auf, knurrte und bellte ihn an. Rudi schrak zusammen. Der Besitzer riß an der Leine, um das Tier auf den Boden zu zwingen. Mit einem scharfen» scheket!«rief er den Rüden zur Ruhe. Ein massiger nachtschwarzer Hund mit breitem Gebiß.»Platz, Nebbich«, sagte der Mann, worauf das Monster seufzte und die Schnauze auf die Pfoten bettete.
Ethan sagte:»Wäre es zuviel verlangt, dem Hund einen Maulkorb anzulegen?«
«Nebbich ist völlig harmlos.«
«Haben wir gesehen! Ich verstehe nicht, was ein Kampfhund in einem Cafe zu suchen hat.«
«Nebbich ist kein Kampfhund. Er tut nichts. Ich habe ihn unter Kontrolle. Solange ihr euch nicht auf seine Pfoten setzt.«
Ein anderer Gast sagte:»Das ist ein jüdischer Kampfhund. Der gehört ins Kaffeehaus.«
«Jüdisch? Ist er ein Angstbeißer?«fragte darauf Noa.
Rudi kam wieder näher an den Tisch. Er sprach leiser weiter. Er sei sich am Anfang ja gar nicht sicher gewesen, auf seinen Vater gestoßen zu sein. Der Verdacht allein hätte ihm natürlich nicht genügt. Deswegen seine Recherche. Darum auch der Besuch im Krankenhaus. Er habe die Briefe gekannt und Felix vor einiger Zeit geschrieben, aber bis heute war der Alte vage geblieben und hatte zwar nichts abgestritten, aber auch Zweifel an seiner Vaterschaft geäußert. Ja, er sei ein Bastard, ein Mischling. Er sei für die Nicht-Juden ein Jude und für die Juden ein Goj. Und er sei es gewohnt, sich einzuschmuggeln und einzugemeinden, in jede Kultur und jedes Land. Und wer meine, das höre mit der Kindheit auf, habe nichts begriffen.
Er war wieder lauter geworden, der Terrier bewegte die Ohren und zog die Lefzen hoch. Die Nachbartische hatten längst begonnen, den Streit aus den Augenwinkeln zu verfolgen. Die Kellnerin patrouillierte auf und ab. Rudi bestellte eine weitere Flasche Goldstar. Er wußte nicht, was er sich vorwerfen sollte. Er hatte sich um eine Stelle beworben, für die er qualifiziert war. Er hatte einen Artikel geschrieben, weil er von einem Redakteur darum gebeten worden war. Er hatte Ethan zitiert, ohne ihn zu nennen. Nun gut. Das war nicht fein, aber auch kein Verbrechen. Hatte er voraussehen können, dadurch einen solchen Skandal auszulösen?
Ein Kind ratterte mit einem Plastiktraktor vorbei. Die Kellnerin brachte die Bestellung, und Rudi setzte das Bier an, ließ es in sich hineinrinnen.»Ich scheiß drauf. «Es war mehr ein Rülpsen als ein Sprechen. Und dann:»Wer braucht einen wie dich schon als Bruder?«
Rudi stand auf. Am Nachbartisch sagte einer, die seien sicher verwandt, nur Familienmitglieder könnten so streiten. Rudi setzte sich wieder.
Ethan nahm die Briefe zur Hand. Es waren kurze Schreiben. In Eile hingeworfen.»Ich habe prinzipiell nichts gegen die Möglichkeit. Wir könnten Brüder sein, natürlich. Es geht nicht darum, daß die Ordnung der Familie durcheinanderkommt. «Er verzog angewidert das Gesicht, als er die Worte» Ordnung der Familie «aussprach.»Geschwister sind keine Frage der Wahl. Wenn Felix erklärt, dein Vater zu sein, wer bin ich, es zu bestreiten.«
Rudi richtete sich auf und beugte sich mit hochgerissenen Armen zu Ethan, um ihn zu umarmen, aber der American Pit Bull, der mit zuckenden Lefzen und gebleckten Zähnen den Streit der beiden Männer belauert hatte, sprang mit einem Knurren auf und schnappte nach Rudis Hintern. Rudi schrie auf vor Schmerz. Ethan brüllte den Besitzer an:»Ich bring dich um! Nicht den Hund, sondern dich.«
«Ist schon gut. Reg dich ab«, antwortete der Mann.»Es ist ja nichts passiert.«
Rudi rief:»Was soll das heißen? Was, wenn er Tollwut hat?«
«Nebbich«, sagte der andere, und es war unklar, ob er sich damit auf Rudi bezog oder seinen Hund zurückrief.
Es sei genug. Der Besitzer des Cafes stand plötzlich vor ihnen. Er räumte den Tisch ab. Das Vieh habe ab sofort Lokalverbot, und die ganze Blase, ob Geschwister oder nicht, solle jetzt abhauen. Und zwar sofort. Er verzichte auf die Bezahlung. Raus.
Sie wollten ohnehin nach Hause. Der Biß des Hundes hatte bei Rudi kaum Spuren hinterlassen, aber er wollte sich hinlegen. Auch Ethan und Noa fuhren heim. In der Nacht klammerte er sich an sie. Sie hielten sich aneinander fest, als wäre das Bett abschüssig. Im Dunkeln fühlte Ethan den Kater über seine Füße tapsen.
Am nächsten Morgen frühstückten sie gemeinsam. Danach las er drei Seminararbeiten, die ihm per E-Mail zugeschickt worden waren. Er mußte Anfragen beantworten. Eine Einladung zu einer Konferenz lehnte er dankend ab. Aus dem Tel Aviver Institut erreichten ihn bürokratische Mitteilungen. Er löschte sie. Wilhelm Marker bat ihn, sich zu überlegen, ob er sich nicht doch bewerben wolle.
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