Er war weitergegangen, ohne vom alten Mann auf dem Balkon entdeckt worden zu sein. Als er das Gäßchen verließ, stand er wieder im Lärm. Eine Asiatin stöckelte an ihm vorbei. Die Jeans saßen tief auf den Hüftknochen. Der Stringtanga lugte seitlich hervor. Sie klingelte an einem Geschäftslokal, das zu einer Wohnung umgebaut worden war. Jemand öffnete ein Fenster, worauf sie auf das Gesims stieg, um hineinzugelangen. Rudi überquerte die Straße, an der die großen Hotels lagen. Auf einem heruntergekommenen Platz über dem Meer — die Ruine einer verrotteten Diskothek erinnerte hier an die Exaltiertheit und das Klangfieber der achtziger Jahre — trank er an einem Stand einen Becher frisch gepreßten Orangensaft. Ein Afrikaner schleppte eine Kühltasche umher und sang den Namen der Eismarke, die er anbot:»Artik!«
Nahe der Brandung, wenige Meter entfernt von den Surfbrettern der Jugendlichen und von den Chassakes, wie die alten levantinischen Flachboote der Lebensretter hier genannt wurden, verlief die Jarkon, und wer ihr nordwärts folgte und dann nach rechts abzweigte, konnte bereits das Haus erkennen, in dem Felix und Dina wohnten. Von ihrem Wohnzimmer aus reichte der Blick über die Flachdächer, über die Wassertonnen und das Antennengestrüpp bis zu den Minaretten und dem Uhrturm in Jaffa. Der Weg zur Wohnung wurde gekreuzt von der Dizengoff, wo die Lokale überlaufen waren und die Kellner in der Mittagshitze von einem Tisch zum nächsten jagten, und inmitten des Getöses war Rudi, als säße er am Boulevard Saint-Germain oder in Berlin am Kurfürstendamm.
Du bist Orplid, mein Land. Von hier war es nicht mehr weit bis nach Jaffa, wo Ruinen arabischer Häuser neben neuen Prachtbauten lagen, die sich nahe der Küste erhoben. Aber was war schon weit? Nicht Gaza, nicht Ramallah und nicht Jerusalem.
Ethan sagte zu ihm:»Du hast keine Ahnung. Als ich ein Kind war, mag es noch Reste des ursprünglichen Tel Aviv gegeben haben. In den Sechzigern, als ich noch unterm Tisch herumkrabbelte, redeten die Erwachsenen oben unaufhörlich von Politik. Jede Handlung war vollgesogen mit Politik. Sie sprachen und sie sangen davon. Sie lachten und sie weinten darüber. Glaube mir. Wenn ich mit anderen Kindern abends vom Spielen zurückkam, schallte der einzige israelische Fernsehsender aus allen Wohnungen. Wenn die Nachrichten kamen, wurde in allen Häusern der Ton lauter gestellt, und wir, die Kleinen, trippelten von den Neuigkeiten begleitet heim. Damals — sogar noch in den Siebzigern — fuhren viele mit den öffentlichen Bussen, und der Fahrer ließ das Radio laufen, stellte es zur vollen Stunde lauter oder wurde von einem der Fahrgäste darum gebeten, weil keiner etwas versäumen wollte und schon gar nicht den nächsten Anschlag oder eine kommende Eskalation. Und selbst noch in den Neunzigern hingen alle an den Geräten, wenn es wieder Sondermeldungen gab. Aber heute, Rudi, wenn ich die Kollegen von der Arbeit, die Studenten in meinen Vorlesungen, meine Jugendfreunde sehe, spricht keiner mehr gerne über Politik. Die Leute reden nicht mehr über die Regierung und die Parteien, sondern sie streiten allenfalls über die neuesten Restaurants und Pubs. Früher trafen sie sich beim Essen, um zu politisieren, später politisierten sie nur noch, um gut essen zu können. Heute verdirbt ihnen ein Wort über die nationale Lage den Appetit.«
Rudi widersprach nicht. Er erinnerte sich an einen Nachmittag, den sie zunächst zu dritt am ehemaligen Hafen verbracht hatten. Ein Lokal direkt an der Küste. Über ihren Köpfen waren Flieger hinweggezogen, um auf dem kleinen Flughafen in der Nähe zu landen. Später setzten sich einige alte Freunde von Noa zu ihnen, mit denen sie sich verabredet hatte. Alle waren künstlerisch tätig. Sechs Singles und drei Pärchen. Kinder mit Skateboards und Fahrrädern.
Auch in dieser Runde war der Konflikt kein Thema mehr, weil ohnehin bereits alles gesagt war. Wozu sich wechselseitig versichern, wie hoffnungslos die Lage war? Weshalb so tun, als wäre von dieser Koalition irgend etwas zu erwarten? Oder auch von der Opposition? Vor wenigen Jahren hätten Noas Bekannte einem Ausländer wie Rudi erklärt, unter welchen Bedingungen ein Frieden machbar sei. Leute wie sie wären überzeugt gewesen, das Land müsse bloß geteilt werden. In der Zwischenzeit waren die Parolen der ehemals Linken zu den Leerformeln der Mehrheit geworden, zu einem Konsens, der allen nun nur noch wie ein bloßes Lippenbekenntnis erschien. Diejenigen, die jahrelang vergeblich zu Verhandlungen aufgerufen hatten, waren nun gespalten. Die einen glaubten, auf der anderen Seite sei niemand, mit dem zu reden wäre.»Es gibt keinen Partner«, wiederholten sie bei jeder Gelegenheit, und wenn es um militärische Fragen ging, sagten sie gerne:»Ejn brera«, was nichts anderes bedeutete als:»Es gibt keine Alternative. «Die anderen hingegen meinten, die eigene Führung und die Siedler seien schuld, daß keine Lösung in Sicht war. Manche dachten, es sei längst zu spät, um die beiden Nationen noch in je einen Staat auftrennen zu können. Fast alle aber hatten aufgegeben.
Zwei Tage später saßen Rudi und Ethan in einem Cafe. Ethans Absagen waren aufgefallen. In dem Troß, der von einer international besetzten Konferenz zur anderen rund um den Globus zog, zählte er zum festen Kern. In den letzten Wochen war er zu sieben verschiedenen Veranstaltungen nicht erschienen. Nun sollte er in Los Angeles, im Museum der Erinnerung, sprechen, aber wieder hatte Ethan erklärt, nicht hinfahren zu wollen.»Ein Kollege fragte mich bereits, ob es stimmt, daß du im Sterben liegst«, sagte Rudi.
«Was hast du ihm geantwortet?«
«Ich erzählte ihm von einem Familienleiden.«
Ethan hatte Rudi gebeten, den Vortrag in Los Angeles für ihn zu halten.»Du wirst ja ohnehin dort sein. Warum solltest du nicht neben deinem Referat auch meines ablesen. Ich werde einfach einen alten Text ein wenig umschreiben.«
Zwei Tage später flog Rudi in die USA. Im Flugzeug schrieb er seine eigene Vorlesung zu Ende. Der Zwischenstopp war kurz bemessen. Der Flug von Tel Aviv hatte Verspätung, und so fürchtete er, den Anschluß in Heathrow zu versäumen. Er stürzte aus dem Flugzeug, hastete mit seinem Köfferchen und seiner Computertasche die Gänge entlang.
Heathrow versank an diesem Tag wieder im Chaos, der Flughafen platzte aus allen Nähten. Im Transitbereich herrschte Gedränge, vor den Sicherheitskontrollen ging nichts voran. Als er endlich an der Reihe war, warf er Schlüssel, Portemonnaie, Gürtel, Kugelschreiber, Mobiltelefon in eine Plastikschale und bettete sein Sakko darüber. Den Laptop legte er in eine zweite. Er lief durch die Sicherheitsschleuse und sammelte schnell seine Sachen ein, hastete weiter. Als er schon fast am Gate war, griff er sich an die Hosentasche. Das Portemonnaie mit dem Bargeld und allen Kreditkarten war weg. Er rannte zurück zur Sicherheitskontrolle.
Erst als Rudi verzweifelt bat, alle Behälter noch einmal zu durchsuchen, tauchte seine Brieftasche wieder auf. Längst war er überzeugt, den Anschluß nach Los Angeles nicht mehr zu erreichen. Aber wenig später bestieg er nicht nur das Flugzeug; die Boeing wartete dann noch eine Stunde auf der Rollbahn, bis sie endlich eine Starterlaubnis erhielt.
Zu erschöpft, um einschlafen zu können, schaute er sich Spielfilme auf dem kleinen Monitor an. In Los Angeles wurde er von einem der Assistenten abgeholt, um zum Abendempfang in ein Nobelrestaurant gefahren zu werden. Rudi hätte sich am liebsten im Hotel verkrochen. Er wollte aufs Klo, ins Bad und ins Bett, doch die anderen Wissenschaftler, von denen die meisten früher angekommen waren, saßen bereits zu Tisch. Alle erwarteten ihn, erklärte der Assistent. Es dauerte, bis sie endlich da waren. Er wurde überschwenglich begrüßt. Rudis letztes Buch über museale Darstellungen von Minderheiten in Europa hatte viel Anerkennung erfahren. Er war bei den letzten Tagungen aufgefallen. Seit Ethan nicht mehr erschien, galt er als neuer Name in seinem Forschungsgebiet. Anders als Ethan, der durch seinen Sarkasmus und seine dunklen Szenarien beeindruckte, begeisterte Rudi durch seine leichte Ironie und vage Zuversicht. Um so spannender fanden es alle, daß Rudi für Ethan einsprang.»Hier ist er ja«, rief der Konferenzleiter ihm entgegen, und zu den anderen gewendet:»Rudi Klausinger wird nicht nur sein eigenes Referat halten, sondern auch Rosens Einleitungsvortrag lesen. Sagen Sie, geht es Ethan schon besser? Wir machen uns Sorgen.«
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