Er hatte neulich erzählt, dass sein Vater tatsächlich versucht, die Leute hier auszuquetschen, nach irgendwelchen verschollenen plattdeutschen Wörtern und für seine Uwe-Johnson-Arbeit. Ich habe ihn auch selbst schon die Dorfstraße langschlendern sehen, wirklich schlendern, womit er wahrscheinlich sofort neun von zehn Sympathiepunkten verspielt hat,»dei het woohl nix to daun!«, und der letzte dürfte ihm spätestens dann abhandengekommen sein, als er anfing, den ersten» uttauhörchen«.
«Überhaupt nicht«, sagt Paul.
Und dann sagt er:»Aber Ingrid, also, meine Mutter.«
Von zwei Dingen auf einmal verwirrt zu werden, macht es einem auch nicht gerade leichter, unbefangen zu reagieren. Meine Entscheidung ist instinktiv:»Du sprichst deine Mutter mit Vornamen an?«
Paul zögert, er hat anscheinend die andere Frage erwartet.»Nein, also, nicht immer. Eigentlich, ich soll ›Mum‹ sagen, aber manchmal ich sag Ingrid, und wenn ich denke über sie, also, du verstehst? Ich finde, ›Mum‹ passt nicht zu ihr.«
«Einer will das Haus kaufen?«, fragt Ella.
THAT’S THE QUESTION.
«Ja«, sagt Paul.»Sie hat jemand gefunden, vielleicht.«
Vielleicht. Der Abend des sechsundzwanzigsten Dezember.
«Also fahrt ihr bald?«
Ella! Musste das sein? Wie soll ich denn jetzt noch …
Paul sitzt da, vornübergebeugt, die Arme auf den Knien, die Hände wie in einer Bittgeste aneinandergelegt, ernst und schön, es steht ihm sehr gut. Er nickt, langsam und schön wie sein Lachen, und Ella seltsamerweise auch, sie fällt, so scheint es, fast zufrieden in dieses Nicken ein.
Okay. Okay, okay, okay. Cool bleiben jetzt. Jetzt ist jetzt. Wie war das? ALLES HAT SEINE ZEIT, genau. Die Bibel. Die Puhdys. STEINE SAMMELN, STEINE ZERSTREUN. Cool bleiben, Romy. Heut ist heut, und morgen ist morgen. Und um den morgigen Tag braucht man sich keine Sorgen machen, weil man ja schon am heutigen genug davon hat. Genau. ALS ICH AUFSTAND, IST SIE GEGA-ANGEN. Aber jetzt ist — scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße.
Und ich höre es erst beim zweiten Mal, als Ella ihn schon entsetzt anstarrt. Paul sagt, es klingt ein wenig müde:»Ich war bei die Elpe.«
Ich höre das und kapiers nicht. Offenbar hab ich irgendwas verpasst. Einmal zurückspulen, bitte. Oder warum ist mir auf einmal wie an einem dieser verkorksten Tage, an denen man morgens eine Viertelstunde verschläft und das den ganzen Tag über nicht mehr aufholt?
Ich merke, dass ich genauso starre wie Ella, und versuche, mich zusammenzureißen.»Was soll das heißen?«
Paul guckt mich etwas bange an, dann lächelt er.»Well, ich war einfach da, you see. Ich habe geredet mit ihnen.«
«Mit wem hast du geredet?«Ellas Stimme poltert noch eine Kellerstufe tiefer als sonst, vielleicht ist das ihre Form von Hysterie, und irgendetwas daran macht mich nervös, es würde mich nicht wundern, wenn sie plötzlich aufspränge und ihren mongolischen Krummsäbel zückte, um einen unverzeihlichen Verrat zu rächen. Dann ist sie ganz stumm und scheint irgendwie in sich zusammenzusacken, ihr Gesicht zeigt eine milde Enttäuschung, oder enttäuschte Milde. Als hätte sie ein Kind mit irgendwas überfordert und wüsste nun nicht, wem sie die Schuld am Misslingen geben soll, sich oder dem Kind. Und in meinem Bauch gären hundert unreife Äpfel.
«Wieso bist du da hingegangen? Was wolltest du da?«
Paul im Kreuzverhör scheint immer mehr zu ermüden, ich rechne jeden Augenblick mit einem Gähnen. Ist mir schon klar, wie wir jetzt wieder dastehen. Vor ihm. Pastorentöchter. Wir knien vor Sankt Paul und langweilen ihn mit unseren irdischen Sorgen. Schließlich lässt er sich doch noch herab, uns eine Antwort zuteil werden zu lassen:»Ich war neugierig.«
«Auf dieses Gesocks?«
Er schenkt mir ein heiliges Stirnrunzeln, und ich zittere, es möge nur das Wort sein, das sich seinem Verständnis entzieht.
«Ich wollte es sehen mit meine eigene Augen, you know! — Was ist schlimm dabei?«
Das ist doch nicht das richtige Wort. Schlimm. Es stand einfach für alle Zeiten außer Frage. Ich merke, dass es mich nicht so sehr erschreckt, dass Paul seinen von lauter Anbetung vermutlich schon ganz blankgeküssten Fuß dort hingesetzt hat. Ich finde es nicht schlimm. Es erschreckt mich, dass er überhaupt auf die Idee kam. Für Ellas an weiten Ebenen, nicht an einzelnen Grashalmen geschulten Hunnenblick macht das wohl keinen Unterschied. Sie guckt, als hätte sie es förmlich herangaloppieren hören, dann schon, als noch kein schwarzer Punkt am Horizont zu erkennen war.
Nur eins interessiert sie noch, sie fragt mit geradezu inquisitorischer Strenge:»Und? Willst du das noch mal machen?«
Der arme Sünder Paul, der Ketzer McCartney kneift die Lippen zusammen. Um dann ein kurzes» Ja!«hervorplatzen zu lassen.»Ja. Noch einmal. Mit euch.«
Für einen Moment bin ich wirklich sprachlos, und fast überraschter darüber, dass es diesen Zustand tatsächlich gibt, als über dessen Ursache. Was vielleicht auch wieder nicht stimmt. Irgendwas stimmt doch hier schon die ganze Zeit nicht. Dann lache ich plötzlich. Okay, alles klar, uns so zu verarschen! Ich gucke Paul an und warte darauf, dass er mitlacht, von mir aus, dass er uns auslacht, ich blicke zu Ella, die drauf und dran war, Paul einen Vogel zu zeigen, und jetzt nur etwas unschlüssig sagt:»Du spinnst«, und zu grinsen versucht. Das letzte Grinsen, bevor man sich in die Hosen scheißt.
Paul mustert Ellas Teppich, bis ich frage, auch auf die Gefahr der Komplettblamage hin:»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
Sein Aufblicken lässt mich erst mal wieder innerlich nach hintenüberfallen. Ich vergesse manchmal, dass er diese Augen hat. Zumindest versuche ich es, ha.
«Of course, it is!«
Klingt wie: Na, was denkt ihr denn? Dass ich bullshit rede? — Ja, in gewisser Weise denken wir das wohl.
«Sie haben gesagt, ich soll wiederkommen. Sie sind nicht schlimm. Sie waren nett. Aber ich hatte Schwierigkeiten zu verstehen alles.«
«Dat kann’k mir vorstelln, ey!«Ella lacht kurz auf.
«Yeah, exactly! Ihr sprecht auch so, ich mein, wenn ihr nicht mit mir seid?«
«Nee!«Wir gucken uns an, Ella und ich, und wir lachen. Wir lachen es einfach weg, okay?
Paul sagt:»Ihr könnt euch etwas wünschen jetzt.«
«Etwas wünschen?«Noch mal das Gleiche, wir kriegen uns gar nicht mehr ein. Fast kommt es mir vor, als lachten wir Paul aus. Er lacht mit.
«Ja«, sagt er,»weil ihr habt das Gleiche, also, zur gleichen Zeit, I mean, wenn man sagt zusammen das Gleiche, dann kann man sich etwas wünschen und muss so machen mit die Finger«, und er nimmt unsere Hände und legt jeweils unseren Zeigefinger und Daumen zu einem Ring zusammen und beide Ringe ineinander.»Und jetzt wünschen! Aber nicht sagen!«
Ich spüre den Abdruck von Pauls Fingern auf meinen und weiß nicht, was ich mir wünschen soll. Ich kann mich nicht entscheiden.
«Fertig?«, sagt Ella.
Ich möchte wissen, was sie sich gewünscht hat. Wahrscheinlich etwas, das nicht völlig im Bereich des Unerfüllbaren liegt. Beziehungsweise von dem sie das nicht glaubt. Vielleicht ist das das Gleiche.
Paul sagt:»Wirklich, sie sind okay. «Weg. Einfach. Es. Lachen. Wir.»Ich glaub, sie sind einfach langwei-, no, eh …«
«Langweilig? Ja, das glaub ich auch. «Langweilig ist gut.
«Nein, das andere. Sie haben Langweile, sagt man so?«
«Ja, das auch. Langeweile, die: eine gefährliche, ansteckende und nicht selten tödliche Krankheit, siehe ›todlangweilig‹, die, nicht behandelt, im Endstadium oft mit dem Gebrauch von Kraftausdrücken und Anfällen von Zerstörungswut einhergeht. Von Kontakt mit Betroffenen wird dringend abgeraten.«
Paul lacht, Ella guckt mich an, als hätte ich auch irgendeine Krankheit, dann grinst sie ein bisschen. Ich habe Paul zum Lachen gebracht.
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